Mut in brüchigen Zeiten

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Die diesjährige, interdisziplinäre pro mente Fachtagung stellte im Jänner Fragen nach Kohäsion, Ermutigung und Zuversicht in einer fragmentierten Welt. Zu den Vortragenden zählte Jakob Hein, Schriftsteller, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie. Er behandelte das Thema „Jugend in Transition“. Die Zeit des Erwachsenwerdens sei an sich eine Zeit des Übergangs, in der die Entwicklung vom „Wir“ zum „Ich“ vollziehe. „Das erwachsene Individuum will wissen ,wer bin ich?` oder ,was ist der Sinn des Lebens`. Zu diesen philosophischen Grundfragen kommen noch körperliche Prozesse, die Jugendliche bewältigen müssen“, so Hein. In die Phase der Jugend fällt auch die Entwicklung von einer Gender-neutralen Person zu einer Gender-Person. „Die Entwicklungsräume der Kinder haben sich bis heute massiv erweitert, vergleichbar mit einem übervollen Supermarkt. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit gibt es erst seit dem vorigen Jahrhundert. Ein Leben ohne Landbesitz ist möglich. Ich brauche keine Familie, kein Haus, keine bestimmte Struktur, um mich zu entwickeln“, meinte Hein in seinem Vortrag. Auch innerhalb der Familie gebe es nun eine höhere Gleichberechtigung. Eltern verstehen sich eher als Partner der Kinder. Die Zeit der strengen Hierarchien sei vorbei. Es gibt mittlerweile völlig diversifizierte Familienmodelle, von Alleinerzieher*innen über Regenbogenfamilien bis zu Patchwork Familien. Das erhöhe die Wahlmöglichkeit für Lebensentwürfe.

Die Medizin reagiert darauf mit einer Umkehr von der Pathologisierung hin zur Normalisierung von bestimmten Lebensentwürfen.  So verändern sich auch die Diagnosen, die Persönlichkeitsstörungsdiagnose verändert sich nicht selten hin zur Funktionsbeeinträchtigung“, so Hein. Ein besonders prägender Faktor für Jugendliche ist der Umgang mit sozialen Medien. „Das Internet dient auch dazu die eigene Peer-Group zu finden. Das ist einerseits eine Normalität. Man verbringt Zeit mit Leuten, die eine ähnliche Meinung haben. Das ist ein Echoraum. Die Meinungen verstärken sich, auch teilweise negativ. Das Risiko liegt darin, dass die Orientierung in der realen Welt schwieriger wird“, so Hein. Wer zu lange online ist, findet es komisch, in der realen Welt kein Like vergeben zu können. Die Komplexität der Sinneseindrücke sei in der realen Welt auch anders. „Wenn eine intelligente Person stinkt, ist es schwer – im Internet braucht man kein Deo“.

Die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie zeigen sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: „Wir können uns vor Anfragen nicht retten, es ist wirklich sehr dramatisch. Die Wartelisten sind sehr lang. Aber wir als Mental Health Professionals sind auch aufgerufen, den Silberstreifen am Horizont zu sehen. Es ist toll, was heute online alles geht. Wir dürfen nicht nur auf Negativität fokussieren. Das Virus interessiert sich nicht dafür, ob wir schlechte Laune haben“.

Betroffene & Angehörige

Stefanie Graefe, Soziologin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stellte in ihrem Tagungsbeitrag die Frage nach der „Resilienz als ambivalentes Leitbild der Gegenwart“. Barbara Prainsack, Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien präsentierte die Ergebnisse einer qualitativen Studie zur Arbeit in Österreich post-Covid. Monika Stockinger, stv. Vorsitzende HPE-Wien, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision (SF) und Edwin Ladinser, Geschäftsführer HPE Österreich sprachen über die Notwendigkeit der Ermutigung Angehöriger psychisch Erkrankter und stellten u.a. das Projekt „Verrückte Kindheit“ vor: In einer Schulklasse wachsen durchschnittlich vier Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil auf. Es brauche dringend Sensibilisierung der allgemeinen Öffentlichkeit und auch der Fachwelt.

Thomas Bock, Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz und Professor für klinische und Sozial-Psychiatrie am UKE in Hamburg sprach zum Thema „Äußere Bedrohung – innere Verarbeitung. Haben Psychosen eine Seismographen-Funktion?“ Wilma Roider, Genesungsbegleiterin, Vorstand EX-IN Österreich und Peter Denk, EX-IN Trainer, Vorstand EX-IN Österreich sprachen über die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen während der Pandemie und forderten mehr ambulante und stationäre Angebote für Betroffene.

Zum Abschluss der Fachtagung fand eine Podiumsdiskussion mit Hemma Swoboda, Obfrau von pro mente Wien, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin, leitende Oberärztin an der Klinik Hietzing, Ewald Lochner, Geschäftsführer der Sucht- und Drogenkoordination Wien, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, Jakob Hein, Schriftsteller, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie und Beatrice Frasl, Kulturwissenschaftlerin, Podcasterin, Lektorin an der Universität Wien, statt. Dazu folgende Statements:

Ewald Lochner: „Grenzenloser Optimismus ist das Mittel, das uns weiterbringt. Wir rechnen mit 10 bis 15% zusätzlichem Bedarf in Sozialpsychiatrie und Sucht. Im ambulanten Setting haben wir mehr Ressourcen für dieses und das nächste Jahr. Aber darüber hinaus braucht es mehr Behandlungsmöglichkeiten, mehr Personal und mehr Ausbildungsplätze“.

Beatrice Frasl: „Über meine eigene wiederkehrende Depression öffentlich zu sprechen ist auch eine Art Bewältigung. Ich bin viel in Kontakt mit Menschen die auch psychische Erkrankungen haben. Die meisten waren besser auf diese Pandemie vorbereitet, weil sie schon ewig durch Tiefen gehen. Man hat alles, was man schon überlebt hat, überlebt und man kann auch noch weiteres überleben. Wir sehen aber, dass gesellschaftlich einiges zerbricht. Was sich da abzeichnet, diese destruktive Wirkung unserer Diskussionskultur, die fast schon eine Angriffskultur geworden ist. Es braucht Mut, das auszuhalten, auch wenn man nicht weiß, wie lang das noch geht“.

Hemma Swoboda: „Am Anfang der Pandemie gab es diese Luxusproblematik der überflüssigen Zeit. Aber diese Wahlfreiheit haben viele Menschen gar nicht, wie etwa die Klient*innen von pro mente. Es ist wichtig, dass wir die Menschen dort abholen, wo sie sind. Eine erfolgreiche Soziotherapie ist eine Kombination von Akzeptanz und Veränderung. Sie basiert auf Mut, Vertrauen und Zuversicht. Es ist wichtig, dass Menschen in Begegnung kommen und den Mut zu kleinen Schritten fassen“.

Die nächste pro mente Fachtagung findet am 12. Jänner 2023 statt.