Überraschend anders

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Christine Preißmann ist Ärztin, Psychotherapeutin und Autistin. Im Interview mit dem Access Guide Magazin erklärt sie, warum das bei der Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten kein Widerspruch, sondern sogar ein Vorteil ist.

Access Guide Magazin: Menschen im Autismus-Spektrum haben häufig Schwierigkeiten mit zwischenmenschlicher Kommunikation. Wie gelingt es Ihnen trotzdem als Psychotherapeutin zu arbeiten?

Christine Preißmann: Das lässt sich sehr gut vereinbaren. Ich habe den Eindruck, dass meine Patientinnen und Patienten davon profitieren dass ich ruhiger bin. Ich erkenne zwar nicht immer sofort, wie es jemandem geht. Aber ich frage dann ganz genau nach. Die Mehrzahl meiner Patientinnen und Patienten kommt aus dem Autismus-Spektrum oder vermutet diese Diagnose. Meine eigenen Erfahrungen sind da sehr hilfreich, weil ich zum Beispiel Strategien weitergeben kann, die mir selbst geholfen haben. Konkrete Verhaltenstherapie gelingt mir als Autistin recht gut.

Access Guide Magazin: Welche Hürden gab es während Ihrer Ausbildung?

Christine Preißmann: Das Jahr als Allgemeinmedizinerin war für mich sehr anstrengend, weil ich viel zu viele Menschen in sehr kurzer Zeit behandeln musste. Die Arbeit als Psychotherapeutin bietet dagegen viele Vorteile für mich. Eine Sitzung dauert 50 Minuten und Patientinnen und Patienten bleiben über einen längeren Zeitraum dieselben. Diese Kontinuität kommt mir sehr entgegen.

Access Guide Magazin: Wie gelingt es Ihnen, sich in Ihre Patienten hineinzuversetzen?

Christine Preißmann: Viele Menschen denken, Autismus bedeutet, dass man nicht empathisch sein kann. Das stimmt aber nicht. Inzwischen weiß man, dass es zwei verschiedene Arten der Empathie gibt: die kognitive und die emotionale. Letztere funktioniert bei Autisten sehr gut. Sie können sich in andere Menschen hineinversetzen. Ein Zuviel an Mitgefühl kann auch erdrückend sein.

Christine Preißmann

Christine Preißmann © Privat

Access Guide Magazin: Statistisch gesehen sind mehr Männer von Autismus betroffen. Stimmt das? Warum wird bei Frauen die Diagnose seltener gestellt?

Christine Preißmann: Das ist schwer exakt zu beantworten, weil die Dunkelziffer an Frauen mit Autismus wahrscheinlich sehr hoch ist. Früher dachte man, das Verhältnis von Buben zu Mädchen mit Autismus liege bei fünf bis acht zu eins. Heute geht man von einem Verhältnis zwei zu eins aus. Autismus wird bei Mädchen und Frauen auch deshalb seltener diagnostiziert, weil sie als Kinder weniger auffällig sind: Sie sind stiller und mehr in sich gekehrt. Die Angehörigen merken oft gar nicht wie belastet sie sind. Bei mir selbst war das auch so. Ich war ein stilles Kind und bin gerne am Rand gesessen. In der Schule wollte ich nicht auffallen und nicht angesprochen werden – ich war irritiert und ängstlich. Viele Klassenkameraden haben mich wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. Ich konnte mich gut unsichtbar machen.

Generell können sich autistische Mädchen besser tarnen als autistische Buben. Das liegt auch an den gesellschaftlichen Erwartungen. So wird der mangelnde Blickkontakt bei Frauen eher auf Schüchternheit geschoben, als auf eine autistische Störung. Autistische Mädchen pflegen im Schulalter bezüglich der Themenwahl manchmal sogar alterstypische Spezialinteressen wie Tiere, Fantasy, Schreiben oder auch Umweltschutz. Die Spezialinteressen autistischer Buben sind häufig Technikaffin – sie begeistern sich z.B. für Strommasten oder Mobiltoiletten und dergleichen. Was Mädchen und Buben mit Autismus aber verbindet ist das exzessive, obsessive und repetitive Ausleben dieser Vorlieben. Autistische Mädchen und Frauen versuchen sehr oft, die Erwartungen ihrer Umgebung zu erfüllen, stoßen dabei aber immer wieder an ihre Grenzen.

Access Guide Magazin: Auch Sie haben erst mit 27 Jahren Ihre Diagnose bekommen? In welcher Weise hat das Ihr Leben verändert?

Christine Preißmann: Das war eine große Erleichterung für mich. Nicht nur für mich, sondern auch für mein Umfeld. Davor musste ich mir oft anhören: „Stell dich nicht so an, du könntest das schon wenn du wolltest“ und dergleichen. Mit wurde häufig unterstellt, faul zu sein. Ich hatte aber den Eindruck, dass ich mir unendlich viel Mühe gab. So habe ich mich Jahrzehntelang unverstanden gefühlt. Seit meiner Diagnose widme ich mich auch wissenschaftlich dem Thema Autismus. Mein Leben hat sich dadurch zum Positiven verändert. Das hätte ich mir davor nicht vorstellen können.

Access Guide Magazin: Was hat sich auf dem Gebiet der Frauendiagnostik getan?

Christine Preißmann: Es ist ein wenig besser geworden, aber viel zu häufig ist die richtige Diagnose und die adäquate Unterstützung immer noch eine Glückssache. Die aktuellen Diagnosesysteme berücksichtigen noch immer nicht die speziellen Schwierigkeiten und Auffälligkeiten autistischer Mädchen. Notwendig wären geschlechtsspezifische Modifikationen im Hinblick auf soziale, kommunikative und fantasievolle Dimensionen, um auch bei dieser Gruppe die korrekte Diagnose stellen zu können. Bislang ist es notwendig, dafür einen ausgesprochenen Fachmann zu finden, der in der Lage ist, die richtigen Fragen zu stellen.

Immer noch leiden viele Mädchen und Frauen mit Autismus jahrelang still vor sich hin. Die Symptome sind, insbesondere im Fall von High-Functioning Autismus und Asperger-Syndrom, häufig subtiler und weniger stark ausgeprägt als bei Jungen. Die betroffenen Mädchen werden daher oft lediglich als „seltsam“ wahrgenommen, aber nicht als umfassend beeinträchtigt. Autistische Mädchen sind in der Regel ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren. Bei ihnen stehen daher seltener die Aggression und das Stören des Unterrichts, sondern vielmehr passives Verhalten und der Rückzug im Vordergrund. Dies entspricht immer noch dem gesellschaftlichen Rollenbild von Frauen. Eine frühzeitige Diagnose kann viele Schwierigkeiten, Demütigungen und Verletzungen verhindern, die die Betroffenen auf ihrem Lebensweg erfahren.

Access Guide Magazin: Wann wurde Ihnen selbst bewusst, dass sie „anders“ sind? Wie hat ihr persönliches Umfeld darauf reagiert?

Christine Preißmann: Ich habe schon im Kindergarten gespürt, dass ich anders als andere bin. Am liebsten war ich alleine und habe abseits der anderen gespielt. Die anderen Kinder haben mein Anderssein bemerkt, sie haben mich an den Haaren gezogen, einmal haben sie mich sogar in den Bach geworfen. In der Familie wurde ich viel selbstverständlicher behandelt. Ich hatte zwei jüngere Brüder, mit denen ich Fußball oder Tennis gespielt habe. Die Aktivitäten im Freien waren mir lieber als Mädchentypische Spiele. In der Schule war ich in den naturwissenschaftlichen Fächern am besten. Als Jugendliche hatte ich häufig Knieschmerzen und war oft bei Ärzten oder im Krankenhaus. Vor meinen Operationen habe ich mir Fachbücher gekauft und wollte mit den Chirurgen die einzelnen OP-Schritte besprechen – darauf sind nur die wenigsten eingegangen. Aber so ist mein Interesse an der Medizin erwacht. Ich habe das große Glück heute in dem Beruf zu arbeiten, den ich erlernt habe und es macht mir Spaß. Das ist mir am Wichtigsten.

Access Guide Magazin: Was müsste sich gesellschaftlich ändern, damit sich Menschen mit Autismus nicht mehr als Außenseiter empfinden?

Christine Preißmann: Ganz vieles – aber ich glaube wir sind auf einem guten Weg. Inklusion wird mittlerweile bereits in den meisten Schulen gelebt. So lernen Kinder, dass es Menschen gibt, die anders sind und unterschiedlichste Behinderungen haben. Ich bin überzeugt, dass die Gesellschaft in Zukunft toleranter sein wird. Das zeichnet sich jetzt schon ab – es gibt viel mehr Aufgeschlossenheit gegenüber unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten – in diesem Spektrum sollten auch Menschen mit Autismus wahrgenommen werden. Es wird notwendig sein, möglichst früh individuelle Lösungen anzubieten.

Access Guide Magazin: Sie haben zahlreiche Bücher zu dem Thema geschrieben. Wie können andere Betroffene und deren Angehörige davon profitieren?

Christine Preißmann: Ja das ist mir ein wichtiges Anliegen. Die Bücher können für die Betroffenen und deren Angehörige, aber auch für Fachleute sehr hilfreich sein. Da ich selbst sowohl Betroffene als auch Psychotherapeutin und Ärztin bin, kenne ich beide Perspektiven aus eigener Anschauung und weiß, wie wichtig es für das gegenseitige Verstehen ist, jeweils über den eigenen Tellerrand blicken zu können und die Sichtweise des jeweils anderen nachzuvollziehen. Deshalb kommen in meinen Büchern nicht nur Fachleute, sondern auch Betroffene und deren Angehörige zu Wort.

Access Guide Magazin: Seit „Rainman“ kommen Menschen mit Autismus auch immer häufiger in Filmen vor. Wie realistisch sind diese Darstellungen?

Christine Preißmann: In Filmen oder im Fernsehen werden Menschen mit Autismus oft sehr überspitzt dargestellt. Ich schau mir das selten an. Aber auch dabei ein unrealistisches Autismus-Bild vermittelt wird, bekommt das Thema trotzdem eine breite Aufmerksamkeit. Es gibt aber tatsächlich viele Berufe für Menschen mit Autismus, vor allem wenn es darum geht, sich exakt an Regeln zu halten. Menschen mit High-Functioning Autismus und Asperger-Syndrom können ihre Fähigkeiten vielfältig einsetzen – vom Programmieren bis zur Medizin – überall dort, wo exakt gearbeitet werden muss.

Access Guide Magazin: Wie bewältigen Sie Ihren Alltag?

Christine Preißmann: Der Alltag ist immer noch schwierig für mich. Es ist mir nicht leicht gefallen, bei meinen Eltern auszuziehen. Seit fünf Jahren lebe ich nun aber in einer eigenen Wohnung. Mit der Unterstützung meiner Psychotherapeutin und meiner Ergotherapeutin gelingt es mir, trotz aller Schwierigkeiten ein schönes und erfülltes Leben zu führen.

Access Guide Magazin: Danke für das Interview.

Christine Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Mit 27 Jahren wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert. 2005 begann sie Vorträge über Autismus zu halten und veröffentlichte Bücher zu dem Thema. Im deutschen Roßdorf betreibt die 50-Jährige eine Praxis für Psychotherapie.