Durch einen Arterienverschluss verliert der Reisejournalist Martin Bruno Walther innerhalb von vier Jahren beide Beine. Seinen Optimismus und Tatendrang ließ er sich davon nicht rauben. Seit drei Jahren erkundet er die Welt im Rollstuhl. Im Interview erzählt der Niederösterreicher, wie ihm das alles gelingt.
Access Guide Magazin: Wie wurden Sie Rollstuhlfahrer und wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?
Martin Bruno Walther: Anfang 2019 hatte ich plötzlich einen höllischen Krampf im linken Unterschenkel. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Meine Kraft hat gerade noch ausgereicht, um meinen Nachbarn zu verständigen, der dann die Rettung gerufen hat. Im Spital wurde bei mir ein sehr hoher Blutzuckerwert festgestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich Diabetes habe. Ich hatte davor keinerlei Symptome, außer dass ich ab und zu ein bisschen verschwommen gesehen habe und oft durstig war. Meine Gesundheit habe ich damals ähnlich gehandhabt wie mein Auto – solange es funktioniert, fahre ich damit nicht in die Werkstatt. Nach mehreren Untersuchungen stand schließlich der Auslöser meiner Schmerzen fest: ein akuter Arterienverschluss. Ich wurde mehrere Male operiert und mein Bein konntet vorerst gerettet werden. Vor vier Jahren musste dann mein rechtes Bein amputiert werden. Ende 2024 wurde schlussendlich auch mein linker Oberschenkel amputiert.
Access Guide Magazin: Wie ging es Ihnen bei Ihrer ersten Amputation?
Martin Bruno Walther: Das war während der Corona-Pandemie. Damals durfte ich nur 30 Minuten pro Tag Besuche bekommen. Das war schon sehr belastend, weil ich gerade da Menschen gebraucht hätte, die mich seelisch unterstützen, meine Hand halten und mir sagen „Es wird alles wieder gut“. Ich hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Zu den körperlichen Schmerzen kam noch dazu, dass mich meine damalige Lebensgefährtin verlassen hat, bei der ich bis dahin gewohnt hatte. Plötzlich war ich obdachlos. Mir ging es sehr schlecht, ich hatte auch Suizidgedanken, weil ich keine Perspektiven sah. Ich wurde dann von einer neu gegründeten Einrichtung für Betreutes Wohnen in Baden aufgefangen. Dort habe ich auch meine jetzige Lebensgefährtin Sandra kennengelernt, eine Mitarbeiterin vom Betreuten Wohnen. Vor kurzem sind wir zusammengezogen. Wir haben eine wunderschöne Wohnung mit Balkon in Guntramsdorf mit tollem Blick in die Weinberge bezogen. Ein Glück, denn die Suche nach einer barrierefreien Wohnung im Raum Baden ist äußerst schwierig gewesen.
Access Guide Magazin: Hatten Sie auch psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung?
Martin Bruno Walther: Ich bin ein Einzelkämpfer und habe mir in meinem Leben alles selbst beigebracht. Ich denke, ich weiß, wie ich Probleme bewältigen kann. Ich bin zwar ein offener Mensch, aber was mein Innerstes betrifft, meine seelische Verfassung, das mach ich lieber mit mir selbst aus. Ich habe zwar im Spital zu Anfang psychologische und psychotherapeutische Unterstützung bekommen, aber letztlich habe ich es alleine geschafft. Ich habe mich in den Rollstuhl gesetzt und versucht, die Dinge, die ich kann, zu machen und habe versucht, die Dinge, die ich nicht konnte, trotzdem zu machen. Ich habe mich darauf konzentriert, Lösungen zu finden, statt immer nur die Probleme und Defizite zu sehen. In der Welt „draußen“ gibt es viele Hürden. Der bekannte Slogan „Ich bin nicht behindert, sondern ich werde behindert“, trifft es auf den Punkt. Das ist ein wunderschöner Spruch, der viele Menschen zum Nachdenken anregen sollte. Die Barrieren sind nicht im Kopf oder im Herzen, sie sind tatsächlich physisch da.
Access Guide Magazin: Sie sind von Anfang an sehr offen mit Ihrer Behinderung umgegangen und haben auch in den sozialen Medien davon erzählt. Warum war Ihnen das wichtig?
Martin Bruno Walther: Für mich ist es wichtig, offen mit meiner Behinderung umzugehen, deshalb habe ich mich ein paar Wochen nach der Amputation auch auf Facebook und Instagram „geoutet“. Ich wollte, dass es alle wissen, die mich kennen. Das Feedback war überwältigend. Eine ehemalige Kollegin aus der Reisebranche hat sogar einen Spendenaufruf für mich gestartet. Das zusammengekommene Geld konnte ich in meiner damaligen Situation sehr gut gebrauchen.
Access Guide Magazin: Wie hat sich Ihr Leben als Reisejournalist durch den Rollstuhl verändert?
Martin Bruno Walther: Jetzt versuche ich als kleine One-Man-Show die Öffentlichkeit für das Thema „barrierefreies Reisen“ zu sensibilisieren. Dafür brauche ich Partner aus der Reise- und Tourismusbranche. Die Barrierefreiheit ist dort zwar ein ganz, ganz wichtiges Thema, aber sobald es darum geht, Nägel mit Köpfen zu machen, ist der große Rückzug da. Da ist dann auf einmal kein Budget mehr da, kein Flug, kein Platz, kein Zimmer oder was auch immer. Mit einigen Ländern und Regionen – wie Deutschland oder Flandern – arbeite ich aber sehr gut zusammen. Diese bekommen von mir einerseits meine fachliche Expertise, andererseits aber auch Artikel über barrierefreie Reisen. Ich teste auch z. B. Hotels auf Barrierefreiheit. Momentan bin ich an der Entwicklung einer App beteiligt, bei der es um Barrierefreiheit geht. Das Projekt ist gerade in einer Testphase in Korneuburg, Baden und St. Pölten. Da kann dann jeder mitmachen und Barrieren eintragen, oder auch, wo keine Barrieren vorhanden sind und man problemlos durchkommt. Je mehr Menschen da mitmachen, umso besser wird der Überblick.
Access Guide Magazin: Wie sieht es mit Veranstaltern aus, die auf Barrierefreie Reisen spezialisiert sind?
Martin Bruno Walther: In Deutschland gibt es Runa Reisen, die bieten ausschließlich Reisen für Rollstuhlfahrer·innen an. In Österreich haben ca. 19 % der Bevölkerung eine Behinderung, rund fünf Prozent sind Rollstuhlfahrer·innen. Für diese könnte viel mehr angeboten werden, wenn die Anbieter das wollen würden. Bei der jüngsten Ferien Messe in Wien waren unter 400 Ausstellern nur zwei, die sich dem Thema Barrierefreies Reisen gewidmet haben. Das ist erschreckend wenig.
Access Guide Magazin: Was sind die größten Herausforderungen beim Reisen?
Martin Bruno Walther: Alles in Europa, was alt ist, stellt eine Herausforderung dar. In alten Städten gibt es z. B. sehr oft Kopfsteinpflaster, das ist für Rollstuhlfahrer nicht geeignet. Viele Städte sind zwar trotzdem „berollbar“, aber im Rollstuhl hat man fast immer irgendwelche Hürden. Es gibt keine komplett barrierefreien Städte. Man könnte sie aber zumindest barrierefreundlicher bzw. -ärmer machen. In Städten mit vielen Treppen oder Anstiegen braucht man entweder eine Person zur Unterstützung oder einen externen Motor. Ich fahre meistens manuell, lasse mir aber für manche Reiseberichte einen Antrieb sponsern. So ein geeigneter Motor kostet um die 7.000 Euro, das ist für viele Menschen unleistbar – so auch für mich. Ähnliche Motoren werden auch für E-Scooter verwendet, diese kosten aber im Schnitt nur rund 1.000 Euro. Es gibt auch Rollstühle, mit denen man Treppen befahren kann, diese sind um einiges teurer und ab circa 40.000 Euro zu haben. Es ist geradezu erschreckend, wie teuer diese Hilfsmittel sind, wenn man bedenkt, wie nützlich solche Erfindungen für uns Rollstuhlfahrer sind. Die Österreichische Gesundheitskasse übernimmt das zumeist nicht. Es gibt leider noch große Defizite im Gesundheitssystem.

Martin Bruno Walther © Ute Fuith
Access Guide Magazin: Was gehört da aus Ihrer Sicht unbedingt geändert?
Martin Bruno Walther: Die Zukunft macht mir Sorgen. Wenn ich mir die politischen Entwicklungen in Österreich anschaue, habe ich Angst davor, was sein wird. Im Vorjahr sollten in Niederösterreich z. B. vier Krankenhäuser gesperrt werden. Für mich ist das extrem kontraproduktiv. Das Gesundheitssystem wird sukzessive abgebaut. Ich finde mich viel zu oft in der Rolle des Bittstellers. Ich habe z. B. jetzt einen Leihrollstuhl, weil mein eigener Rollstuhl nach vier Jahren Gebrauch einen Rahmenbruch hatte. Üblicherweise bekommt man aber erst nach sechs bis acht Jahren einen neuen Rollstuhl. Die Reparatur des Alten kostet ca. 3.000 Euro, ein neuer ca. 3.400. Die Gesundheitskasse legt sich momentan quer und will mir keinen neuen finanzieren. Sie sagt, sie schaut zuerst einmal, ob sie einen Rollstuhl im Lager hat, der in etwa meinen Ansprüchen entspricht. Ich brauche aber einen Rollstuhl, der zur Gänze meinen Ansprüchen entspricht und nicht nur teilweise. Die Versorgung mit Heilbehelfen ist zum Teil sehr schwierig.
Access Guide Magazin: Sie sind auch Inklusions-Aktivist. Welche Strategie verfolgen Sie dabei?
Martin Bruno Walther: Ich möchte nicht mit „erhobenem Zeigefinger“ auf die Menschen zugehen, sondern will sie einfach für Inklusion sensibilisieren, indem ich sie bei Schulungen oder auch als Key Note-Speaker bei Veranstaltungen und Konferenzen darauf aufmerksam mache, wie es ist, im Rollstuhl zu sitzen. Seit eineinhalb Jahren schule ich in ganz Österreich angehende Zugbegleiter·innen im Umgang mit Rollstuhlfahrer·innen. Ich bin auch immer wieder bei Management- Events verschiedener großer Unternehmen eingeladen, wo ich versuche, die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahrers authentisch zu vermitteln. Ich baue aber auch Rampen aus Lego-Bausteinen für Anforderungen, bei denen echte Rollstuhlrampen fehlen. Das Konzept stammt ursprünglich von Raul Krauthausen, dem bekannten Inklusions-Aktivisten, der 2014 für den eigenen Gebrauch eine Minirampe baute. Die deutsche Rollstuhlfahrerin Rita Ebel hat die Lego-Rampen in der Folge medienwirksam umgesetzt. Ich habe das dann auch ausprobiert. Die Lego-Rampen sind sehr stabil, man kann sogar mit dem Auto drüberfahren. In Österreich sind sie aber versicherungstechnisch leider – noch – nicht erlaubt. Für Juni plane ich gemeinsam mit anderen Aktivisten eine Art Rollstuhl-Rätselrallye in Baden. Dafür werden wir Gemeindevertreter und Interessierte einladen, eine Rollstuhltour durch Baden zu machen. Damit wollen wir zeigen, welche Hürden es für Rollstuhlfahrer gibt. Geplant ist auch, österreichische Para-Sportler dafür zu gewinnen.
Access Guide Magazin: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Martin Bruno Walther: Ich möchte als Mensch gesehen werden und nicht als „Behinderter“, der nur von Sozialleistungen leben darf. Ich will lieber ganz normal arbeiten. Das ist aber mitunter schwierig, weil ich eben eine Behinderung habe und nicht zu viel dazuverdienen darf. Die Unterstützungsleistungen sind zudem nicht bundesweit geregelt, sondern unterscheiden sich in Bundesländern oder sogar Gemeinden. Generell unterstütze ich die Forderung von Lohn statt Taschengeld. Es darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen zu Bittstellern degradiert werden. Von der Gesellschaft wünsche ich mir mehr Achtsamkeit und Rücksichtnahme. Mir passiert es sehr oft, dass ich, obwohl ich eine absolut sichtbare Behinderung habe und immer leuchtend orange Kleidung trage, übersehen werde. In Fußgängerzonen stoßen immer wieder Passanten mit mir zusammen. Nicht selten sind Leute sogar auf meinem Schoß gelandet. Deshalb habe ich auch immer eine Trillerpfeife mit, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich wünsche mir auch, dass ich öfter Hilfe angeboten bekäme. „Kann ich helfen“ sind nur drei Worte und keine heiße Herdplatte.
Access Guide Magazin: Welchen Rat würden Sie Menschen in Ihrer Situation geben?
Martin Bruno Walther: „Augen zu und durch.“ Es wichtig das, was vor einem liegt, nicht als Problem zu sehen, sondern sich auf die Lösungen zu konzentrieren. Man muss für sich selbst jene Möglichkeiten finden, mit denen man leben kann. Und überall dort, wo man allein nicht zurechtkommt, muss man sich auch erlauben, Hilfe anzunehmen. Folgen Sie mir gerne unter #martinbrunorollt und auf Facebook, Instagram und LinkedIn!
Access Guide Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.