Der Duft von Semmeln

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Momentan arbeitet die Redaktion des Access Guide Magazins vom Home Office aus. Im Projekt „Logbuch C“ schreiben wir gegen die Krise an und berichten einmal wöchentlich aus unserem Alltag daheim. Im fünften Teil der Serie nimmt uns Philip mit auf eine Reise in die Vergangenheit.

„Seit Tagen, eigentlich seit Beginn des „Lockdowns“ pendle ich ständig zwischen dem Gefühl der Erleichterung, aufgrund der Befreiung von sozialen Interaktionen und dem Wunsch nach eben jenen hin und her. Dieses Pendel schlägt ständig wechselnd zu beiden Polen aus, wobei es passieren kann, dass sich die Tendenz von einer auf die andere Sekunde schlagartig ändert, was es (= meine Stimmung, meinen Umgang mit der Situation) ziemlich unberechenbar macht. Bei all der Verwirrung die dadurch zeitweise entsteht, kann zumindest von Langeweile in meinem bescheidenen Heim nicht die Rede sein.

Gelegentlich, in letzter Zeit immer häufiger, ist das Erste was ich riechen kann, wenn ich das Schlafzimmerfenster gleich nach dem Aufstehen öffne, um nach einem intensiven Traum wieder Kontakt mit der Realität/der Außenwelt aufzunehmen, der Geruch von frisch gebackenen Semmeln. Kein Witz. Entweder ein Bewohner meines Wohnortes bäckt immer, wenn ich aufstehe, Semmeln, oder der Wind trägt eben jenes Aroma den weiten Weg von der, ich denke bereits geschlossenen Fabrik der Firma Ankerbrot, die nahe des Ortes steht an dem ich aufgewachsen bin, bis an das Fenster meines jetzigen Wohnortes. Alles nur um schöne Kindheitserinnerungen in mir zu erwecken/zu reaktivieren. Welche Variante wahrscheinlicher ist, habe ich für mich noch nicht entschieden. Alles was ich weiß, ist, dass ich in letzter Zeit immer öfter mit der Erinnerung/dem Gedanken an Skiurlaube als Kind in kleinen Pensionen, dem Betreten des Frühstücksraums eben jener inklusive riesiger Vorfreude auf den bevorstehenden, langen, langen Tag auf der Piste, aufwachen darf. Es gibt tatsächlich Schlimmeres. Was das alles mit Corona, dem Lockdown, der Quarantäne zu tun hat? Absolut gar nichts. Und das ist der Punkt. Ich/wir sind jede Sekunde, ganz ohne Equipment in der Lage in die Vergangenheit zu reisen, schöne Momente wieder zu erleben, manchmal sogar so intensiv, dass man denken könnte sie sind Gegenwart, passieren gerade jetzt und sind keine (vielleicht) längst vergangenen Erlebnisse. Womit man meiner Meinung nach auch Recht haben könnte.

Sonst ein starker Verfechter des „im-Hier -und-Jetzt-lebens“, denke ich, ist es in schwierigen Zeiten wie diesen eine willkommene Abwechslung dem Alltag entfliehen zu können und für ganz Mutige, ein Abenteuer an Orte und in Zeiten zu unternehmen, die unter normalen Umständen (in der Realität) vermutlich auf ewig unerreichbar bleiben würden.

Heute bei meinen allmorgendlichen Spaziergang, musste ich kurz innehalten, da in mir dabei für wenige Sekunden ein Gefühl der absoluten Fremdheit aufkam. Für diesen Augenblick fühlte ich mich wie im falschen Film gefangen. Oder so als hätte ich ein Deja-vu-Erlebnis, wobei das Gefühl des „diese-Situation-schon-einmal -erlebt-haben“ ausblieb und ich nur die Fremdheit die mit dem Deja-vu einhergeht und üblicherweise kurz davor beziehungsweise nach Selbigem eintritt, wahrnehmen konnte. Es schien völlige Disharmonie zwischen mir und der mich umgebenden Dinge zu herrschen. Ganz so als ob mein Verhalten nicht zur Realität passte, oder andersherum die Realität nicht richtig auf mich abgestimmt war. Vermutlich wurde all das in mir hervorgerufen, weil ich beim spazieren gehen einen ganz normalen, schön-sonnigen Frühlingstag erlebt habe, was unter gegebenen Umständen doch eher unmöglich scheint. Oder nicht? Alles in allem kam ich trotzdem energiegeladener zurück nach Hause als ich es davor verlassen hatte und bin jetzt, im Moment der Niederschrift, erstaunt darüber wie viel Gedanken- und Emotionsenergie sich bündeln kann, um sich dann in nur wenigen Sekunden in meiner Realität zu entladen.

Wenn ich wegen der derzeit angespannten Lage den angebrochenen Frühling und sein herrliches Wetter nicht in vollen Zügen genießen kann, so kommt das Leben eben zu mir in die Wohnung. Wieder mal an meinem Fenster stehend, den Geräuschen spielender Kinder lauschend, Kolonnen vorbeiziehender Fahrradfahrer mit meinem Blick folgend und alle typischen Frühlingsgerüche aufnehmend, war ich plötzlich im Gartenhaus am Rande Wiens, das meine Familie besitzt, wo ich mich im Sommer jede mögliche Sekunde aufgehalten und einen Großteil meiner Kindheit verbracht habe. Plötzlich saß ich nun auf dem Balkon besagten Hauses, ein gutes Buch in der Hand und schaute mit einem inneren Frieden, den ich bisher nur an diesem Ort empfinden konnte, auf den darunter liegenden, von der Sommersonne beschienenen Wald.

Wie schon erwähnt. Ich stellte mir nicht, mit eskapistischem Motiv vor, dort zu sein. Scheinbar spielten alle Komponenten, vom Geruch, der Wahrnehmung bis zu den Geräuschen in diesem Aufblitzen eines Momentes so perfekt zusammen, dass ich ohne Handelnder in diesem Schauspiel zu sein, de-lokalisiert und von meinem Fenster im Jahr 2020, in einen beliebigen Augenblick an meinen Ruheort des Sommers katapultiert wurde. Mein ganzes Sein, heißt alles was mich ausmacht, alles was die Realität ausmacht, war auf der Terrasse präsent. Nur mein Körper schien, allerdings nicht spürbar, in der aktuellen Zeit und Raumsphäre meiner Wohnung zu verbleiben. Mehrere Wahrnehmungs- und Realitätsschichten hatten sich anscheinend kurz verschränkt, sind in einander übergegangen. Für kurze Zeit war die natürliche Ordnung durcheinander geraten”.