Lektüre für den Frühling

Pexels Ketut Subiyanto

Den März widmet das Access Guide Magazin traditionellerweise allen Frauen und ganz speziell den schreibenden und lesenden. Für sie und alle anderen, die es interessiert, hat die Redaktion eine kleine Auswahl besonders guter Bücher von ausschließlich Autorinnen zusammengestellt.

Wovon wir leben Birgit Birnbacher

Fragen der Zeit

Wovon wir leben: Der neue Roman von Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher behandelt die brennenden Themen der Gegenwart: Ein einziger Fehler katapultiert Julia aus ihrem Job als Krankenschwester zurück in ihr altes Leben im Dorf. Dort scheint alles noch schlimmer: Die Fabrik, in der das halbe Dorf gearbeitet hat, existiert nicht mehr. Der Vater ist in einem bedenklichen Zustand, die Mutter hat ihn und den kranken Bruder nach Jahren des Aufopferns zurückgelassen und einen Neuanfang gewagt. Als Julia Oskar kennenlernt, der sich im Dorf von einem Herzinfarkt erholt, ist sie zunächst neidisch. Oskar hat eine Art Grundeinkommen für ein Jahr gewonnen und schmiedet Pläne. Doch was darf sich Julia für ihre Zukunft denken? Zsolnay Verlag

Doshi Abitterer zucker 222128

Liebe und Lüge

Bitterer Zucker: Avni Doshis Debütroman handelt von einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung: „Zu behaupten, ich hätte mich niemals über das Leid meiner Mutter gefreut, wäre eine glatte Lüge“, gesteht die Autorin gleich am Beginn ihres Buches: Antara ist verheiratet, Mitte 30 und Künstlerin. Ihre Mutter Tara hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Als Tochter aus gutem Haus bricht die eigensinnige Frau mit den gesellschaftlichen Regeln der indischen Oberschicht, verlässt ihren Mann und wird im Ashram die Geliebte eines Gurus. Als auch diese Verbindung schief geht, lebt Tara als Bettlerin auf der Straße. Immer mit dabei ist ihre Tochter Antara. In zahlreichen Rückblenden erinnert sich diese an die Vernachlässigungen durch die Mutter, die Übergriffe im Ashram oder das Leben in Armut. Jetzt ist Tara eine alte Frau mit beginnender Demenz und Antara muss sich um sie kümmern. Jedes Anzeichen von Taras Verfalls löst Abscheu in Antara aus. Dennoch ist das Band zwischen Mutter und Tochter unauflösbar. Erst als Antara selbst eine Tochter auf die Welt bringt, ändert sich die Perspektive. Penguin Random House

Pola Oloixarac Wilde Theorien

Über Obsessionen

Wilde Theorien ist Pola Oloixaracs Romandebüt und besteht aus drei ineinander verwobenen Erzählsträngen: Die seltsame Liebesgeschichte der Außenseiter Kamtchowsky und Pabst handelt in der jüngsten Vergangenheit. Die beiden Nerds haben einen ausgeprägten Hang zu Exzessen, den sie in der Club- und Hackerszene von Buenos Aires ausleben. Auf einem dieser soziologisch-erotisch motivierten Ausgänge gelangt Kamtchowsky zu zweifelhafter Berühmtheit, nachdem sie – benebelt von Partydrogen – auf einer Toilette vergewaltigt wird. Das Video des Vorfalls geht viral. Ebenfalls in der Gegenwart angesiedelt ist die Geschichte von Rosa Ostreech, der Ich-Erzählerin. Ihre Obsession ist Professor Collazo, ein altlinker Ex-Guerillakämpfer, den sie in sexueller und intellektueller Hinsicht erobern will. Sein Forschungsgebiet bildet den theoretischen Treibsand des Romans und den dritten Erzählstrang, der sich um den fiktiven niederländischen Anthropologen Johan van Vliet dreht. Dessen abstruse „Theorie der egoischen Übertragung“ ist – vereinfacht gesagt – ein Lobgesang auf das Gesetz des Dschungels. Die Protagonist*­innen des Romans setzen das auf unterschiedliche Weise um. Der Roman besticht vor allem durch den satirischen Ton und die Lust an der Provokation. Pola Oloixarac ist eine äußerst amüsante Abrechnung mit der „Philobohème“ gelungen. Verlag Klaus Wagenbach

Sarah Moss Geisterwand

Rückwärtswendung

Geisterwand: Die 17-jährige Silvie hat nur ein Ziel: Weg von zu Hause und ihrem dominanten Vater, einem Hobbyforscher, der auf die Eisenzeit fixiert ist. Aber erst muss sie noch den Familienurlaub überstehen. Der wird, wie in jedem Jahr, nach den väterlichen Wünschen verbracht. Diesmal mit einer Gruppe Archäolog:innen, die einen Sommer lang versucht, in den Wäldern von Northumberland wie vor 2500 Jahren zu leben: Die Männer jagen Kaninchen oder fischen, die Frauen sammeln Beeren und Wurzeln, kochen und waschen ab. Silvie freundet sich mit der Studentin Molly an, die sich über die im Camp gelebten Geschlechterrollen lustig macht. Silvie dagegen hat wenig Grund zu lachen. Sie fürchtet sich vor der Wut ihres Vaters. Er kann nicht mit Kritik umgehen und schlägt Frau und Kind regelmäßig. Seine romantische Verklärung eines vermeintlich natürlichen Urzustands wird zu einer zusätzlichen Gefahr – vor allem für seine Tochter. Sarah Moss ist mit ihrer dichten Erzählung ein wahres Meisterstück gelungen. Sie verwebt die seltsame Faszination für längst vergangene Zeiten mit dem leider immer noch sehr aktuellen Thema der Gewalt gegen Frauen und Kinder. Berlin Verlag

Akerman Meine Mutter lacht

Autobiographisches

Meine Mutter lacht: Chantal Akermans Mutter ist 85 und schon sehr gebrechlich. Sterben will sie nicht. Ihr Moment ist noch nicht gekommen, sagt sie. Sie hat Auschwitz überlebt, redet aber nie darüber. Die Tochter bereitet sich auf den Tod der Mutter vor. Sie versucht, sich selbst ohne sie vorzustellen, aber sie ist noch nicht bereit, loszulassen. Mit fast 60 fühlt sich die Tochter immer noch wie ein altes Kind, dem das Erwachsenenleben zu anstrengend ist. Die Mutter repräsentiert den Ort, an den sie immer zurückkommen kann, um eine Pause vom Leben draußen zu machen. Chantal Akerman protokolliert die ihnen gemeinsam verbleibende Zeit, reflektiert die Mutter-Tochter Beziehung, aber auch ihr eigenes Leben. Verlag Diaphanes