Mein bittersüßer Gemütszustand

Yaroslav ShuraevPexels 1

Durch die Pandemie haben sich die depressiven Symptome in Österreich mehr als verdoppelt. Davon betroffen sind auch viele Teilnehmer*innen von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Mina* ist eine davon. Sie hat ihre Geschichte für das Access Guide Magazin aufgeschrieben:

„Sie hat viele Namen: der schwarze Hund, Melancholie, die dunkle Nacht der Seele. ,Depression’s like a big fur coat – It’s made of dead things but it keeps me warm’, sang einst eine Künstlerin, deren Musik mich durch unzählige solcher Nächte begleitet hat. Für mich, eine der passendsten Beschreibungen für diesen bittersüßen Gemütszustand, der sich in mein Gehirn eingebrannt hat und fester Bestandteil meines Gefühlsrepertoires geworden ist, ohne den ich mich irgendwie unvollständig fühle. Der besagte Pelzmantel war ein Geschenk meiner Eltern an mich. Keiner kann sagen, wem er ursprünglich gehörte und wie sehr er verändert und angepasst wurde, bis er schließlich mir überreicht worden ist. Ich wollte dieses Geschenk nicht. Es wurde mir aufgedrängt. Der Duft jener, die ihn vor mir trugen, haftet noch schleierhaft an dem Stoff und lässt ihre Geschichten erahnen und an meinem Körper weiterleben. Gleich und doch anders, hängt der Mantel schwermütig an meinem Leib, und obwohl er mir zu groß ist, schätze ich die Wärme, die er meiner in der Totenstarre erkalteten Seele bringt. Ich muss nicht, wenn ich ihn trage. Ich darf einfach nur sein, und mich unter seinem kalten Pelz sicher fühlen – mich erdrücken lassen.

Es mag vielleicht verstören oder ärgern, wenn meine Beschreibung dieser, oftmals schwer verlaufenden und potenziell tödlichen Krankheit, so harmlos und romantisiert klingt. Ich habe unzählige Jahre meines Lebens in einem emotionalen Vakuum verbracht und irgendwie hat sich dieser Zustand normalisiert – wurde meine Identität, mein Zuhause. Auch wenn nicht alle Betroffenen, das Gefühl des Betäubt-Seins von klein auf kennen und im Laufe der Jahre lernen mussten, mit ihr zu überleben, so haben wir doch alle eines gemeinsam: Wir sind ausdauernde, geduldige und mutige KämpferInnen. Wie sonst könnten wir es schaffen, uns immer wieder in den Alltagstrott hineinzuwagen, wohlwissend, dass unsere Existenz mehr einem Dahinsiechen gleicht, als einem würdevollen Leben? Unermüdlich geben wir einem Tag nach dem anderen eine neue Chance, obwohl doch etwas Essentielles fehlt – Hoffnung.

Aber es ist ganz und gar nicht hoffnungslos. Auch wenn ich meinen vertrauten Pelzmantel nicht einfach so entsorgen kann, so kann ich ihn doch mittlerweile manchmal ablegen und aufatmen. Am Anfang meines Genesungsweges war die Erkenntnis, dass ich mir mein Schicksal zwar nicht selbst ausgesucht habe, aber innerhalb gewisser Grenzen und Beschränkungen sehr wohl etwas bewirken kann. Mein Handeln bleibt nicht wirkungslos. Meine Gedanken bleiben nicht ohne Konsequenzen. Es ist ein Balanceakt zwischen Tun-Handeln-Sich-bewegen und dem Akzeptieren der eigenen Handlungsunfähigkeit während eines akuten Schubes.

Kann ich mich dazu anspornen, aus dem Bett zu steigen, mir die Zähne zu putzen, zu duschen, mich anzuziehen und einen kleinen Spaziergang zu unternehmen? Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine bewusste Entscheidung handelt, wenn ich mich unter Aufbringung all meiner mentalen und körperlichen Kräfte aus dem Bett zerre und es hinbekomme, mich um meine sterbliche Hülle zu kümmern. Es fühlt sich jedenfalls nicht immer wie eine Entscheidung an. Manchmal entspringt meiner inneren Leere ein unscheinbarer Funke, der mein Handeln induziert. Es ist unbedingt notwendig, dass ich diesen Motivationsschub nicht hinterfrage, sondern dankbar annehme und mich auf der Stelle in Bewegung setze. Sonst kann es schnell passieren, dass ich mich in einer Gedankenspirale über die Sinn- und Hoffnungslosigkeit meines Daseins verliere und im schlimmsten Fall anfange, über Möglichkeiten des Sterbens nachzudenken.

An manchen Tagen gibt es keinen Funken. Dann kommt das Akzeptieren in Spiel. Pausieren, nichts tun und vor allem, sich das Nichtstun – das bedingungslose Existieren zu erlauben, ohne sich dabei von Scham und Schuldgefühlen überwältigen zu lassen. Keiner entscheidet sich dafür, an einer Depression zu erkranken – das Leben bürdet uns das einfach erbarmungslos auf und zwingt uns dazu, stehenzubleiben, aufzuhören zu leisten, zu hetzen und zu tun, damit wir einfach nur mal existieren – bedingungslos. Die längst überfällige, nicht vergönnte, ewig aufgeschobene Pause vom Leben darf – nein muss! – jetzt eingehalten werden. Um sich zu besinnen und um herauszufinden, wer die Person unter dem Pelzmantel eigentlich ist, oder mal war.

Es gibt nicht den einen richtigen und effektiven Weg, so wie es nicht den einen Auslöser  dafür gibt. Jeder hat seine eigenen Gründe für seine Depressionen. Wenn ich mich unter der schweren Last meiner Gedanken begraben fühle, wiederhole ich mein Mantra: „Ich darf sein, ich muss nicht werden.“ Es waren jahrelange Therapien, Arztbesuche, unzählige Selbsthilfebücher und Recherchen notwendig, bis ich allmählich begann, an diesen einfachen, aber für mich so bedeutungsvollen Satz, zu glauben. An manchen Tagen gelingt es mir gar nicht. Das ist auch OK und gehört zum Leben. An solchen Tagen trage ich meinen Pelzmantel und existiere – einfach so“.

Mina* (Name geändert) ist Teilnehmerin von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen.