Diagnose Entfremdung

© Buck Ellison Christmas Card 6

Ausgehend von der Metapher der “sozialen Kälte” beschäftigt sich die Ausstellung “Antarktika” in der Wiener Kunsthalle mit den verschiedenen Bedeutungen des modernen Entfremdungsbegriffs. Ist die Diagnose einer fortschreitenden Verhärtung von Sozial- und Selbstverhältnissen weiter plausibel? Wie verhält sie sich zu zeitgenössischen Forderungen nach Authentizität und Kreativität? Und: Welche anderen Formen der Kommunikation, der Interaktion und der Arbeit braucht es, damit erfolgreiche Selbst- und Weltbezüge wieder denkbar werden?

 “Die Gletscher der Antarktis rücken jährlich drei Millimeter auf uns zu”, schreibt Michelangelo Antonioni in seiner Prosaskizze “Antarktika”. Es ist die Ahnung einer fortschreitenden sozialen Vereisung und Vergletscherung, die den Regisseur in den 1960ern zu diesen Zeilen bewegte. Wenn in diesem Zusammenhang, metaphorisch verdichtet, von Entfremdung die Rede ist, handelt es sich um eine paradoxe Kategorie: einen Zustand des gleichzeitigen Beteiligt- und Unbeteiligtseins.

Die Ausstellung “Antarktika” denkt diese Konfiguration weiter und versammelt insbesondere jüngere Positionen der Gegenwartskunst. Diese beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Identität und Disidentität, der Entzweiung von Person und Rolle im Bewusstsein einer Selbstentfremdung in der Moderne bis zur (nur vorgeblichen) Abwesenheit von Entfremdung in den “neuen Arbeitswelten”. Studien von Verhaltensformen der Kälte stehen dabei Werken gegenüber, in denen eine intensive Ich-Bezogenheit überhitzt wirkt – und am Ende doch nur eine andere Facette zeitgenössischer Entfremdungserfahrung markiert.

Die Kurator/innen Vanessa Joan Müller und Nicolaus Schafhausen haben ihren Schwerpunkt in der Auswahl der Werke auf Fotografie und Film gelegt, die als Repräsentationsmedien ein scheinbar privilegiertes Verhältnis zur Wirklichkeit besitzen und intuitiv die vielschichtigen Dimensionen dessen beleuchten, wofür der Begriff Entfremdung steht: eine grundsätzliche Kondition der Moderne, die unser aller Leben prägt. Die Ausstellung zeigt Arbeiten von Viltė Bražiūnaitė,Tomas Sinkevičius, Burak Delier, Buck Ellison, Isabella Fürnkäs, Eva Giolo, Thibaut Henz, Jan Hoeft, Hanne Lippard, Joanna Piotrowska, Jeroen de Rijke / Willem de Rooij, Jana Schulz, Andrzej Steinbach, Ingel Vaikla, Peter Wächtler, Ian Wallace und Tobias Zielony. Die Schau läuft von 25. Oktober 2018 bis 17. Februar 2019 in der Kunsthalle Wien im Museumsquartier.