Strom der Gedanken

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Sobald die Tage kürzer und dunkler werden, das Wetter trüber, stellt sich für viele Menschen in unseren Breitengraden ein Gemütszustand ein, der mit Schwermut und Nachdenklichkeit zu tun hat. Der Spätherbst ist die Zeit der Melancholie. Adam und Juli haben sich dieser Stimmung auf unterschiedliche Art genähert:

Adam* beschreibt, was ihm durch den Kopf geht: „Ich bin traurig, weil mein Magen anscheinend übersäuert ist, wobei Traurigkeit das falsche Wort ist, aber es ist die Aufgabe, also schreibe ich einfach drauf los. Neben mir liegt ein Apfel und eine Maus. Wer bin ich? Rate mal. Du findest es sicher nicht heraus. Hahahahaha.

Nächstes Thema: Weltwirtschaft und Politik: also meine Meinung ist, dass ich mich nicht auskenne, Ende. Wie wär’s mal mit ein bisschen Milchbrot, schmeckt gut, aber da ist viel Zucker drin. Meine Zähne werden kaputt, sagt mir mein Sitznachbar eben gerade. Ich fühle mich sehr beleidigt und traurig, wobei wir jetzt wieder beim Anfang wären. Ne, nein stimmt nicht, aber ich hab sie mir gestern Abend und heute in der Früh nicht geputzt und meine Zunge somit auch nicht und jetzt stinke ich aus dem Maul wie ein Kamel aus dem Arsch.

Ich darf die anderen nicht stören, weil ich eben laut geredet habe. Ich nehme die Anmerkung und Mahnung wie ein Mann und beginne wie aus Kübeln zu weinen, aber nur innerlich. Haha! Nein mach ich nicht, ich bin so lustig, OMG, Haha LOL. Ich wünschte echt ich könnte meine Zähne putzen, weil das jetzt echt krass eklig ist hier, also es fühlt sich eklig an, aber ich hatte nicht wirklich Zeit, weil ich sehr früh aufgewacht bin, aber dann am Handy war und mich dann wieder schlafen gelegt habe und dann schnell laufen musste und trotzdem zu spät gekommen bin.

Timemanagement ist mein zweiter Name. Insgeheim bin ich Engländer. Halb Engländer, halb Grieche, halb Australier. Wenn ich bloß wüsste was ich schreibe, aber das tu ich nicht und falls ich das doch wüsste, was wär dann der Unterschied?

Ich schreibe jetzt mal an meiner Bewerbung weiter: Sehr geehrte Damen und Herren, liebes Team, liebe Hunde und Katzen, aber nicht Stefan, weil er fies ist (er macht mich auch traurig, letztens hat er gesagt, ich hab Mundgeruch, obwohl ich mir die Zähne geputzt hatte!). Ihre ausgeschriebene Stelle hat mein Interesse und meine Aufmerksamkeit geweckt, deswegen bewerbe ich mich hier. Ich kann mich sehr gut mit dem Beruf als professioneller Arbeitsloser identifizieren. Meine Qualifikationen sind: faul rumsitzen, tanzen, Steuern hinterziehen (Uli Hoeneß ist mein Vorbild – ich will auch mal in den Knast), backen und kochen kann ich leider nicht, vielleicht aber doch, finde es doch selbst heraus, was ist mit dir? Wo ich schon vorher überall arbeitslos war: bei mir zu Hause, bei meinen Eltern, in der Kirche, Straßenbahn, auf der Straße, in der Bahn, beim Bäcker, beim Gitarre spielen (ich kann nicht Gitarre spielen).

Käsekrainer

Ich schreibe einfach alles was gerade ungefiltert durch meinen Kopf kommt, du erlebst gerade den wahren Einblick in meine Gedächtniswelt, der Kopf von (finde es heraus), meine tiefsten und inneren Triebe und Erinnerungen. Als ich sechs war, hab’ ich einen Schuh verloren oder hat der Schuh mich verloren? Gar nichts von beidem, weil ich dann zurückgegangen bin und ihn wieder angezogen habe, aber für eine kurze Zeit war er weg. Also das war auf der Straße. Ich bin praktisch Rapunzel oder so, get on my level, du Heide, du Ketzer, du Apfelverweigerer, du bist mein Totfeind! Äpfel sind gut und gesund und gelb und rot. Hokus Pokus, Simsalabim, Abrakadabra! Lebt denn eigentlich der Holzmichl noch? I don`t know and I probably never will, which is fine. Irgendwie schwitze ich gerade. Das Wort „ich“ ist 65 Mal gefallen bis jetzt, inklusive das in diesem Satz. Hast du`s mitgezählt, um es zu verifizieren. Wenn nicht: Schande über dich, wie konntest du nur?“

Juli* steht beim Schreiben ihr hoher Anspruch an sich selbst im Weg: „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Was kann ich Interessantes zu Papier bringen, das es wert wäre, gelesen zu werden? Da ist er wieder, der Anspruch. Der Sinn im Unsinn finden will und nie aufhört zu bewerten. Warum nicht einmal ohne Sinn etwas machen? Um zu sehen was dabei heraus kommt. Einfach den Stift tanzen lassen, und beobachten wie sich Wort an Wort reiht. Und schneller als man denkt füllt sich die Seite, kaum zu glauben ich bin schon bei der Hälfte. Und so schwer war es am Ende ja auch nicht, denn ich schreibe was ich denke, und das Denken endet nie. Besonders abends, wenn ich eigentlich schlafen sollte. Das kann schon störend sein, wenn mein Geist nicht ruhig sein will und sich immer wieder fragt: Was wäre wenn?“

*Adam und Juli (Namen geändert) sind Teilnehmer*innen von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen.