Gebrauchsanleitung für Utopien

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Trotz des massiven Arbeitskräftemangels in weiten Teilen der industrialisierten Welt stehen viele Erwerbstätige unter Druck. Häufig reicht das Einkommen nicht aus, um alle Rechnungen zu bezahlen. Gute Ausbildung und viel Arbeit sind keineswegs Garantien dafür, gut abgesichert zu sein. Warum das System, wie wir es kennen, nicht mehr funktioniert, erklärt die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack in ihrem aktuellen Buch „Wofür wir arbeiten“. Sie fordert ein Umdenken, damit Arbeit menschenfreundlicher, gerechter und nachhaltiger wird.

In den USA steigt die Zahl älterer Menschen die ihre Pensionsfonds und Häuser verloren haben und sich auch im fortgeschrittenen Alter mit prekären Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen. Sie leben in Wohnwagen oder Wohnmobilen und haben ihren Traum vom Ruhestand längst aufgegeben. Unternehmen wie Amazon schlagen daraus Profit. Der Onlinehändler sucht über das „Camper Force-Programm“ gezielt nach Arbeitskräften über 60.

Im Gegensatz zu den USA gibt es in Österreich noch eine breite Mittelschicht. Aber die Ideologie, dass fast alles wie ein Markt funktionieren muss, greift auch hierzulande immer weiter um sich. „Die meisten Menschen können sich heutzutage durch ihre Arbeit keinen Wohlstand mehr erarbeiten. Für manche reicht das Einkommen aus der Erwerbsarbeit nicht einmal mehr für ein solides Leben aus. (…) Das Momentum-Institut in Wien hat errechnet, dass ein Mensch mit durchschnittlichem Einkommen ungefähr 400000 Jahre arbeiten müsste, um das Vermögen zu akkumulieren, das die 2022 verstorbene Milliardenerbin Heidi Horten besaß“, schreibt Barbara Prainsack in ihrem aktuellen Buch. Darin stellt sie die Frage, was Arbeit eigentlich ist: Die Volkswirtschaftslehre definiert Arbeit – neben Boden, Kapital und Wissen als vierten Produktionsfaktor. Die Betriebswirtschaftslehre sieht Arbeit „als jede plan- und zweckmäßige Aktivität in körperlicher oder geistiger Form, die eingesetzt wird, um in einem Betrieb Güter oder Dienstleistungen zu produzieren“.

Unbezahlte Tätigkeiten gelten weder in der Volkswirtschaft, noch in der Betriebswirtschaft als Arbeit. Da liegt für Prainsack eine der Ursachen der ungleichen Verteilung von Vermögen und Einkommen: Wäre unbezahlte Arbeit als Arbeit bewertet, würde sie weltweit zwischen zehn und vierzig Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen. Hätten Menschen für ihre unbezahlte Arbeit den Mindestlohn erhalten, dann hätten sie im Jahr 2019 über zehn Billionen Dollar verdient, deutlich mehr als der Umsatz der fünfzig größten Unternehmen einschließlich Apple und Amazon, berechnete die New York Times.

Die Politologin fordert daher einen ganzheitlichen Blick auf Arbeit und ihren Wert. Denn die Bewertung der Arbeit habe sich im Lauf der Geschichte stark verändert: Im europäischen Mittelalter galt nicht die Arbeit, sondern das kontemplative, gottgefällige Leben als Ideal. Körperliche Arbeit wurde dagegen als Mühsal oder sogar Strafe aufgefasst. Erst durch die protestantische Ethik änderte sich die negative Bewertung der Arbeit: Gewissenhaftes und fleißiges Tun galt in der Folge als Erfüllung einer Pflicht auf Erden.

Den Kapitalismus kritisiert die Politologin wegen seiner Konzentration auf den Faktor Wachstum. Das primäre Ziel der Wirtschaft in kapitalistischen Systemen sei nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern die Optimierung der Profite. Darüber hinaus dränge der Kapitalismus die demokratische Entscheidungsfindung in Bereiche zurück, welche die Interessen der Marktelite nicht beeinträchtigen. Dass der Markt aber nicht über eine natürliche Selbstregelungkraft verfügt, habe die Corona-Pandemie deutlich gemacht. Neben der vielfach unwidersprochene Marktlogik kritisiert Prainsack auch den sogenannten Rentenkapitalismus, also jenes Wirtschaftssystem, in dem ein großer Teil des Wohlstandes nicht von Arbeit kommt, sondern von Erträgen aus Kapitalvermögen wie Miete, Pacht oder Patente.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Prainsack fordert eine faire Bewertung von Arbeit: „Nicht jede Arbeit muss gleich entlohnt werden. Aber es ist nicht einzusehen, dass die Einkommen mancher Menschen in schwindelerregendem Tempo steigen, während arbeitende Menschen nicht genug haben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten“. Die Entlohnung von Arbeit müsse so gestaltet sein, dass sie einerseits den gesellschaftlichen Wert der Arbeit symbolisiert und andererseits sicherstellt, dass alle genug für ein würdevolles Leben haben. Als mögliche Lösung schlägt die Politologin die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens vor.  Es würde sich sowohl auf die psychische als auch die physische Gesundheit sehr positiv auswirken, weil sich die Betroffenen nicht mehr als Almosenempfänger fühlen müssten. „Würde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von der EU initiiert, dann wäre da auch eine Chance für Europa“, schreibt Prainsack.

Cover Wofür wir arbeiten

Das Buch ist eine Einladung zum Umdenken

Damit Arbeit wirklich zu einem Schlüssel gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderung werden kann, müsse man aber weit über ein bedingungsloses Grundeinkommen hinausgehen: „Welchen Stellenwert wir Arbeit geben und wie wir das Thema behandeln, bestimmt in welche Richtung wir uns als Gesellschaft bewegen. Zählen nur Profite und Wachstum oder wollen wir nachhaltiger leben? Wenn letzteres der Fall ist, dann muss eine Reform der Arbeit zum Teil eines Europäischen Green Deal werden (…) dann muss Arbeit dekommodifiziert werden: Sie ist keine Ware, sondern eine gesellschaftlich wertvolle menschliche Tätigkeit, deren Preis und Wert nicht durch Marktmechanismen bestimmt werden darf“, meint Praisack. Die Autorin legt in ihrem Buch fundiert scharfsichtig und auf äußert verständliche Art die Fehler unseres Verständnisses von Arbeit offen und zeigt den Weg zu einer gerechten und sinnstiftenden Arbeit für alle auf.

Barbara Prainsack ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, zuvor lehrte sie am King’s College London. Sie ist international ausgewiesene Expertin für Gesundheits-, Wissenschafts- und Technologiepolitik, Vorsitzende der Ethik-Kommission der Europäischen Kommission, Mitglied u.a. der britischen Royal Society of Arts, gewähltes ausländisches Mitglied der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften, gewähltes Mitglied der Academia Europaea und Leiterin zweier wissenschaftlicher Studien, die Auskunft über unseren Umgang mit der Pandemie gaben. Ihr Buch „Wofür wir arbeiten“ ist 2023 im Brandstätter Verlag erschienen.