Nähe in Zeiten der Pandemie

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Das Erleben von Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe oder körperlicher Intimität hat sich infolge von Lockdowns und Distanzierungsmaßnahmen grundlegend verändert. In einer groß angelegten Studie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien /SFU, die von der Stadt Wien und der Arbeiterkammer kofinanziert wird, werden diese Veränderungen und ihre sozialen und psychischen Folgen nun eingehend untersucht. Der Fokus liegt auf Unterschieden zwischen Bevölkerungsgruppen in Hinblick auf Beziehungen und Kontakte, Sexualität und körperliche Nähe, Sorgen und psychische Belastungen, Ausgrenzungserfahrungen, Konflikte und Gewalt sowie Bewältigungsstrategien und Zusammenhalt. Dazu wurden vom 10. November bis zum 10. Dezember 2020 knapp 2.600 Personen im deutschen Sprachraum online befragt.

Jetzt liegen erste Zwischenergebnisse vor, die einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der sozialen Dynamik der Krise liefern können. „Wie komplex sich soziale Beziehungen durch die Distanzierungs­maßnahmen verändert haben, wird bislang zu wenig berücksichtigt. Befragte unserer Studie schildern Ausgrenzungserfahrungen und es kommt zur Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen, die als vermeintlich ‚ansteckend‘ gemieden werden. Auch der Verlust von sozialen Netzwerken macht sich in unserer Studie bemerkbar.“, sagt Studienleiterin Barbara Rothmüller von der Fakultät für Psychologie der SFU.

Immerhin 20% der Befragten haben in der Pandemie den Kontakt zu wichtigen Vertrauenspersonen verloren. Ausgrenzung aufgrund der Haltung zur Pandemiebekämpfung hat jede*r Vierte erlebt, und 14 Prozent der Personen mit LGBQ(+)-Hintergrund waren von Ausgrenzung aufgrund ihrer Sexualität oder Beziehungsform in der Pandemie betroffen. Die Studie zeigt auch auf, dass Personal in Risikoberufen nicht nur eine Hauptlast der Gesundheitskrise trägt, sondern aufgrund von Ansteckungsängsten auch sozial gemieden wird. Ein Drittel des befragten medizinischen Personals hatte im zweiten Lockdown das Gefühl, dass sich Menschen von ihnen distanzieren, weil sie in einem Risikoberuf arbeiten.

Interessant ist auch der Genderaspekt: Die Umfrageergebnisse deuten darauf hin, dass Frauen nicht nur im freundschaftlichen und familiären Bereich einen Großteil der Sorgearbeit leisten, sondern auch im Beruf. Sie fühlen sich häufig von den neuen, pandemiebedingten Unterstützungserwartungen überfordert und sind öfter sehr erschöpft als Männer, wobei ihnen im Vergleich auch weniger Zeit zur Erholung bleibt. Jede*r zehnte Befragte gab an, dass seine*ihre letzte Umarmung zum Zeitpunkt der Befragung mehr als drei Monate zurücklag. Bei Menschen ohne romantische oder sexuelle Beziehung zum Zeitpunkt des zweiten Lockdowns war es knapp jede*r Zweite.

Auch Dating und Kinderwunsch haben sich im Verlauf der Pandemie bei den Studienteilnehmer*innen verändert. Mehr als die Hälfte der Befragten gibt an, dass ihnen Kulturveranstaltungen fehlen, wie auch Reisen und Urlaube und der Kontakt zu großen Freundesgruppen. „Die mit der Gesundheitskrise einhergehenden Ausgangsbeschränkungen, die Zunahme an Armutsrisiken, die Angst vor dem Virus, die soziale Isolation und der Verlust der Selbstbestimmung über das eigene Leben führen zu neuen Sorgen und psychischen Belastungen. In der Umfrage sind davon verstärkt Eltern, Frauen und Menschen mit nicht-binärer oder anderer Geschlechtsidentität betroffen”, fasst Laura Wiesböck zusammen. Die Soziologin ist Co-Autorin der Studie.