Verborgene Talente

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Laut Schätzungen ist 1% der Bevölkerung im Autismus-Spektrum. Von allen arbeitsfähigen Personen dieser Gruppe sind circa 80% arbeitslos, das sind 19.000 Personen in Österreich. Tatsächlich ist ihre Beschäftigungsrate geringer als bei Personen mit Lernschwierigkeiten oder anderen Einschränkungen. Zudem sind Menschen im Autismus-Spektrum mit Mobbing in der Schule konfrontiert, was sich aus mangelndem Verständnis in der Gesellschaft ergibt. Specialisterne Austria identifiziert, qualifiziert und vermittelt Talente im Autismus-Spektrum in Mangel- und Zukunftsberufe. Im Interview mit dem Access Guide Magazin erklären Anna Marton* und Johannes Klietmann*, wie das funktioniert.

Access Guide Magazin: Viele Autist*innen sind arbeitslos, weil es für sie zu viele Barrieren in der Arbeitswelt gibt. Worin bestehen die größten Hürden?

Johannes Klietmann & Anna Marton: Autismus umfasst ein weites Spektrum und dementsprechend unterschiedlich sind die jeweiligen Anforderungen. Viele Menschen im Autismusspektrum brauchen ein höheres Ausmaß an individueller Unterstützung, als im „ersten Arbeitsmarkt“ möglich ist. Andere benötigen fast keine Unterstützung oder Anpassungen des Arbeitsplatzes. Allerdings gibt es selbst bei nicht eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher Intelligenz Hürden bei der Jobsuche oder im Beruf.

Typische Schwierigkeiten treten zum Beispiel beim Bewerbungsprozess auf, weil unter anderem Ausschreibungen eher wörtlich verstanden werden und viele Autist*innen bewerben sich nur dann, wenn sie wirklich alle Anforderungen auf Punkt und Komma erfüllen. Gibt es keine klaren Anleitungen, kann es auch Probleme dabei geben, wie Bewerbungsschreiben verfasst werden sollen – das betrifft sowohl die Formulierungen, als auch die Länge.

Anna Marton

Anna Marton, Specialisterne © Ute Fuith

In Vorstellungsgesprächen selbst sind Nervosität und soziale Ungeschicklichkeit die größten Hürden. Es besteht die Tendenz zu überzogener Selbstkritik oder zum „Tiefstapeln“. Die „werbetaugliche“ Selbstvermarktung gelingt selten, weil das dem „autistischen Prinzip“ der Ehrlichkeit widerspricht. Im Job selbst leiden Autist*innen häufig an Reizüberflutung. Geräusche oder Beleuchtung können schnell zu viel werden. Den meisten ist es auch sehr unangenehm zu telefonieren, das bedeutet Stress für sie. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin zu priorisieren – besonders dann, wenn es darum geht die Erwartungshaltungen anderer zu erfüllen. Was noch ein Problem sein kann ist die zum Teil „unangemessen“ ehrliche Kommunikation und das regelmäßige Bedürfnis nach Rückzug. Viele Autist*innen haben häufig sehr unebene Fähigkeitenprofile, sind also in manchen Bereichen hochbegabt und in anderen untalentiert. Somit fallen manche, auch oft schwierige, Aufgaben erstaunlich leicht, andere fallen extrem schwer. Daher sind Menschen mit Autismus gezielt als spezielle Fachkraft anstatt als Allrounder einzusetzen.

Access Guide Magazin: Welches Arbeitsumfeld brauchen Autist*innen?

Johannes Klietmann & Anna Marton: Sehr wichtig sind Vorhersehbarkeit und die direkte, klare, bevorzugt schriftliche Kommunikation. Von Vorteil ist auch, wenn die Aufgaben an die individuellen Fähigkeiten angepasst sind. Gegebenenfalls sollte es die Möglichkeit zu Rückzug geben oder Maßnahmen gegen Reizüberflutung wie Sonnenbrillen, Kopfhörer oder ähnliches. Auf große Veränderungen im Unternehmen sollte es eine angemessene Vorbereitungszeit geben. Hilfreich ist auch, wenn es einen bewussten Umgang mit der Zurückgezogenheit geben kann – dass z.B. Absagen von Mittagessen oder Kaffeeplausch nicht persönlich genommen werden und dergleichen.

Access Guide Magazin: Um in einem nicht-barrierefreien Arbeitsumfeld arbeiten zu können, müssen viele Autist*innen eine Fassade aufbauen. Wie funktioniert dieses Masking?

Johannes Klietmann & Anna Marton: Masking beruht auf zwei Mechanismen: Zum einen sind es eingeübte Verhaltensweisen, die sich als brauchbar erwiesen haben oder die einem beigebracht wurden. Sie sind wenig flexibel und oft nicht ganz passend, aber relativ leicht abrufbar und strengen weniger an. Zum anderen funktioniert Masking über intensive Beobachtung und Üben: Wie reagieren Menschen in welchen Situationen? Das wird beobachtet – mehr oder weniger explizit – analysiert und schließlich auch eingeübt. Mit anderen Worten: Während eines Gespräches muss sowohl das Gespräch verfolgt und sinnvoll daran teilgenommen werden, als auch eine Art psychologische Analyse desselben Gespräches durchgeführt werden. Das wird mit zunehmender Übung einfacher, strengt aber immer noch an. Das muss man sich vorstellen wie ein Improvisationstheater, bei dem die Ansagen der Regie aus dem Kontext der Situation herausgelesen werden müssen.

Access Guide Magazin: Wie schaut es mit den Inselbegabungen von Autist*innen aus? Wie häufig kommen sie tatsächlich vor und worin bestehen die?

Johannes Klietmann & Anna Marton: Inselbegabungen sind deutlich seltener, als es gerne behauptet wird. In der eigentlichen Bedeutung kommen sie nur im einstelligen Prozentbereich vor. Dennoch sind sie unverhältnismäßig häufig bei Autist*innen, denn ein Prozent der Bevölkerung macht circa 50 % der Personen mit Inselbegabungen aus.

Johannes Klietman

Johannes Klietmann, Specialisterne © Ute Fuith

Inselbegabungen im weiteren Sinne, also im Sinne besonderer oder verstärkter Begabungen, können die verschiedensten Eigenarten haben. Relativ häufig erscheint uns persönlich ein gutes Verständnis für technische Dinge oder visuelle Fähigkeiten. Einer unserer Kandidaten meinte etwa beim Vergleich zweier Excel-Tabellen, er habe quasi geschummelt, da er mit einem Auge auf die linke und mit dem anderen Auge auf die rechte blicken konnte und sie so sehr rasch vergleichen konnte. Manchmal findet man auch mathematisches Verständnis oder extrem gutes Gedächtnis. Bekannt ist aber auch ein intuitives Verständnis für Rinder, wie das Beispiel der US-Amerikanerin Mary Temple Grandin zeigt. Generell sind bei Menschen mit Autismus sehr häufig Detailgenauigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Toleranz gegenüber repetitiven Aufgaben, gute Mustererkennung, gutes Gedächtnis, logisch-analytisches, aber auch kreatives Denken zu beobachten.

Access Guide Magazin: Was bietet Specialisterne an?

Johannes Klietmann & Anna Marton: Specialisterne wandelt die Stärken des Autismus in unternehmerischen Erfolg um. Wir bieten verschiedene Ausbildungen, vor allem in den Bereichen Softwaretesting und Qualitätssicherung an. Diese enthalten auch Einheiten zur Psychoedukation, also dem eigenen Verständnis von Autismus, zu Gepflogenheiten in Betrieben, zu Bewerbungsgesprächen und vieles mehr. Dazu durchlaufen die Kandidat*innen auch einen Kompetenzprozess, bei dem möglichst gut die jeweiligen Stärken gesucht werden. Darüber hinaus übernimmt Specialisterne die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt, was bedeutet, dass die Autist*innen bei Specialisterne angestellt werden und per Arbeitskräfteüberlassung an Unternehmen überlassen werden. Sie werden auch für In-House-Projekte angestellt, wo sie Aufgaben übernehmen, die ein Unternehmen an Specialisterne ausgelagert hat, oder sie werden direkt vom Unternehmen angestellt. In jedem der drei Fälle übernimmt Specialisterne den Onboardingprozess und steht für Coaching am Arbeitsplatz zur Verfügung. Dabei wird auf die möglichst passgenaue Vermittlung geachtet – Person, Aufgabe und Unternehmen sollen möglichst gut zueinander passen, damit das bestmögliche Ergebnis erzielt werden kann.

Access Guide Magazin: Wie können Unternehmen von Menschen aus dem Autismusspektrum profitieren?

Johannes Klietmann & Anna Marton: Typischerweise durch hohe Präzision bis hin zu einer Tendenz zu Perfektionismus, gerade auch im Umgang mit abstrakten Daten oder beim Abarbeiten „langweiliger“ Aufgaben, etwa in der Arbeit mit Datenbanken, bei Sichtkontrollen, Softwaretests und dergleichen mehr. Tatsächlich ist die Fähigkeit, visuell Unterschiede wahrzunehmen, Studien zufolge deutlich überdurchschnittlich ausgeprägt, auch wenn die Augen selbst gar nicht so gut sind. Hinzukommen aber auch die offene Kommunikation und die Angewohnheit, sich ganz eigene Gedanken zu machen, die dann zu Anregungen und Verbesserungen führen können. Vieles, was sonst als gegeben hingenommen wird, wird hinterfragt oder die zu Grunde liegende Unlogik eher aufgedeckt. Dazu kommt oft eine sehr hohe Loyalität. Die meisten Autist*innen wollen eher dazu lernen und mehr Fertigkeiten erwerben als hierarchisch aufsteigen. Oft besteht auch eine hohe Motivation und Fähigkeit, sich in schwierige Materie einzuarbeiten und nicht locker zu lassen, bis Probleme gelöst wurden.

Access Guide Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.

Specialisterne Österreich wurde 2011 von Stephan Dorfmeister gegründet, um das international bewährte dänische Modell der Specialisterne Foundation in Österreich umzusetzen. Anna Marton* ist Sprecherin der Specialisterne-Geschäftsleitung, Johannes Klietmann* ist Vortragender und Berater für Specialisterne.