Dazugehören

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Jaey* steht endlich mit beiden Beinen im Leben. Das war aber nicht immer so. Für das Access Guide Magazin hat sie ihre Geschichte des Scheiterns und Bei-sich-selbst-Ankommens aufgeschrieben:

„Meine Eltern erzählen heute noch stolz, dass ich so ein braves Kind war. Ich habe entweder gegessen oder geschlafen, ansonsten war ich unauffällig. So unauffällig, dass in den 80er Jahren niemand erkannte, dass vielleicht etwas nicht stimmte. Ich konnte mich stundenlang mit einer Sache allein beschäftigen, liebte es nackt zu sein und bis zum zweiten Lebensjahr war ich sprachlich eher im tierischen Laute-Spektrum verortbar. Meine Mutter war verzweifelt darüber, ob ich jemals richtig zu sprechen beginnen würde. Im Alter von zwei Jahren fragte sie sich dann, ob ich jemals wieder aufhören würde. Ich sprach sofort in ganzen Sätzen, sehr schnell, ohne Punkt und Komma und hatte viel zu viele Fragen. Auf die Idee, dass ich nicht „brav“, sondern überreizt und erschöpft war, dass ich lieber deshalb ohne Kleidung war, weil ich das Gefühl auf der Haut nicht ertragen konnte, und dass meine Schnelligkeit und die vielen Fragen daher kamen, dass mein Gehirn ohne Pause auf Hochtouren lief, kam niemand. Wie auch, noch nicht einmal die Wissenschaft hatte zu diesem Zeitpunkt eine genaue Ahnung davon …

Ich bin Asperger-Autistin. Und es sollte sehr mühsame 37 Jahre lang dauern, bis ich das zufällig selbst heraus fand. Unglücklicherweise bin ich, vor allem was Frauen betrifft, in sehr guter Gesellschaft damit. Denn es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, dass weiblich geborene und sozialisierte Menschen nicht mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert werden. Weder früher und vor allem nicht später. Viel mehr noch, wir werden, wenn überhaupt, zu einem großen Teil, fehldiagnostiziert. Warum? Das hat vielfältige Gründe aber u.a. ganz bestimmt diesen, weil wir schon früh gelernt haben uns so gut es geht, anzupassen, nicht aufzufallen und unsere Meinung und Ansichten für uns zu behalten. Uns selbst zu verleugnen, um die Harmonie zu bewahren. Nur nicht anecken. Es nicht schwieriger machen, als es sein muss. Denn in unserer Gesellschaft gelten nicht für alle dieselben Regeln. Männer dürfen auch komisch sein, ohne als anstrengend zu gelten. Frauen haben dieses Privileg zumeist nicht. Mir war demnach schon früh klar, dass ich strebsam sein muss. Mich selbst optimieren muss. Ich war mein ganzes Leben lang damit beschäftigt, immer besser zu werden. Begleitet von dem ständigen Gefühl, dass ich hinterherhinke. Niemals gut genug oder schnell genug sein werde.

Heute weiß ich, dass ich meine erste nicht erkannte Depression mit siebzehn Jahren hatte. Meine schulische Laufbahn verlangte für so viele Jahre von mir, mich einer äußeren Struktur anzupassen, welche mit meiner inneren Struktur und meinem Bedürfnis, die Welt auf meine Art zu begreifen, so gar nicht zusammenpasste. Ich scheiterte immer wieder, aber ich wusste nicht woran. Was schlussendlich dazu führte, dass ich das Schulsystem aufgrund schlechter Leistungen verlassen musste. Diese Ungewissheit, nicht zu wissen und planen zu können, was als nächstes kommt, um mich darauf einstellen und vorbereiten zu können, hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Aber damals galt ich eben als jung, unentschlossen und faul.

Dabei habe ich mich die längste Zeit meines Lebens sehr einsam gefühlt. Ein Gefühl, das ich mit großem Aufwand immerzu versuchte, nicht spüren zu müssen. Ich litt enorm darunter, dass da einfach niemand war, der mir irgendwie ähnlich zu sein schien, dieselbe Intensität für Interessen hatte oder die Welt auch nur annähernd ähnlich wahrzunehmen schien wie ich. Ständig war ich insgeheim auf der Suche nach Zugehörigkeit. In allem was ich getan und ausprobiert habe. So sehr ich mich auch anstrengte dazuzugehören, es wollte mir nur unter größtmöglichen Anstrengungen gelingen. Viel zu oft war ich bereit dazu mich selbst aufzugeben, nur um dieser unsäglichen Einsamkeit zu entkommen und Anschluss zu finden. Ich habe die Interessen anderer zu meinen gemacht, weil sie mir das Gefühl gaben, dazuzugehören. Doch am Ende stand ich trotzdem immer wieder allein da. Und irgendwann auch ohne jegliches Gefühl für mich selbst. In meinen späten Zwanzigern ging mir dann letztlich (wieder) die Kraft und die Hoffnung aus, um weiterzumachen. Irgendwie hatte ich es bis hierher geschafft, doch plötzlich schien keine meiner Strategien, das Leben wie bisher zu bewältigen, noch zu funktionieren. Ich verlor den Halt. Ich scheiterte erneut, ohne zu wissen woran und warum. Und ich fragte mich ständig selbst: „Wann hatte ich nur versäumt, dass mir das alles jemand erklärte? Wie das Leben funktioniert. Ich hatte doch immer extra bei allem so genau aufgepasst. Warum bekamen das alle anderen hin, nur ich nicht?“

Ich war dreißig Jahre alt und fühlte mich völlig ausgebrannt. Wie konnte das sein? Zum Glück hatte ich damals noch genug Kraft in mir und Erspartes auf der Seite, um mich allen staatlichen Wiedereingliederungsversuchen ins Arbeitsleben zu entziehen. Denn wenn ich zu diesem Zeitpunkt eines wusste, dann war es, dass ich nicht wieder zurück in ein System kann, dass mich schon so früh, so kaputt gemacht hat.

Fast forward sieben Jahre später, habe ich mit Hilfe psychotherapeutischer Unterstützung erfolgreich ein Studium abgeschlossen und gelernt, nach meinem eigenen inneren Rhythmus und meinen Bedürfnissen zu leben. Und im Grunde genommen ging es mir gesundheitlich wahrscheinlich noch niemals so gut in meinem Leben. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich echt, in mir angekommen und stabil. Doch ich musste wieder zurück ins Arbeitsleben und dieses Mal hat es mich noch schneller erwischt. Aber dieses Mal habe ich es (aus Erfahrung!) auch noch schneller erkannt und es gar nicht erst so weit kommen lassen. So schied ich nach nur einem Jahr im neuen Job wieder aus und war nun bereit der eigentlichen Frage – welche sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben zog – auf den Grund zu gehen: Woran scheitere ich?

Und so banal es klingen mag, die Antwort darauf fand ich in der autobiografischen Geschichte einer Asperger-Autistin die ich las. Ich musste noch nicht einmal das Ende abwarten, denn schon inmitten der ersten Seiten war mir klar, dass hier jemand auch meine Geschichte erzählte. Und im Bruchteil von Sekunden brach eine vollkommen neue Welt über mich herein. Eine Welt die mich überraschenderweise aufatmen lies und mich erleichterte aber gleichzeitig auch in große Angst versetzte. Was sollte ich nun machen? Ohne große Verwunderung, löste diese Situation eine erneute depressive Episode in meinem Leben, das endlich so fantastisch war, aus. Ich rutschte in eine Identitätskrise. Schon wieder! Ich wusste nicht, an wen ich mich damit wenden sollte. Und selbst wenn, was hätte ich sagen sollen? Wie willst du jemandem etwas erklären, dass du selbst noch nicht verstehst? Ich fühlte mich wie eine Betrügerin, dass ich überhaupt nur den Verdacht, die Möglichkeit für mich beanspruchte. In meiner Welt war ich ja völlig „normal“. Und was würde es überhaupt bedeuten, in einer Gesellschaft, in der Behinderung und psychische Störungsbilder stigmatisiert werden, Autistin zu sein? Will ich das? Wären all die Anstrengungen für einen sozialen Aufstieg – als Frau! – mein Leben lang umsonst gewesen? In einem einzigen Moment verblasst. Wie würde es beruflich weitergehen? Werde ich eine Partnerschaft haben? Wie sage ich es meiner Familie, meinen Freunden? Werden sie mich für verrückt halten oder zu mir stehen und an meiner Seite bleiben? Was wenn ich fehldiagnostiziert werde? Was hätte das für Auswirkungen? Was werde oder könnte ich dadurch wieder verlieren? Da war sie wieder diese Einsamkeit. Und die Sorge vor sowohl sozialem als auch wirtschaftlichem Abstieg in prekäre Verhältnisse. Ich hatte schon einmal in meinem Leben alles verloren, war ich bereit dieses Risiko erneut einzugehen?

Ich hatte so unglaubliche Angst vor dieser Entscheidung. Doch gleichzeitig brauchte ich diese Antwort für mich selbst so unbedingt. Ich brauchte Gewissheit! Nicht um irgendjemanden etwas zu beweisen, sondern um zu wissen wer ich wirklich bin, wer ich war und aber vor allem, wer ich sein kann.

Ich dachte mein Leben lang, ich wäre dumm, dabei war ich intellektuell unterfordert und sozial-emotional überfordert und habe dabei nicht die Unterstützung erhalten, die ich gebraucht hätte. Ich habe nun meine offizielle Diagnose und auch wenn sich viele meiner sehr persönlichen Fragen geklärt haben, so stehe ich immer noch vor einem Rätsel in Bezug auf meine Möglichkeiten der Inanspruchnahme von (geförderten) Unterstützungsangeboten. Ich warte seit Monaten auf meinen Termin bei den Beratungsstellen. Und währenddessen steht mein Leben still. Also fast! Denn gerade jetzt in dieser Situation kann ich ganz klar spüren was ich gebraucht hätte und dringend brauchen würde. Ich hätte zumindest eine niederschwellige und vor allem barrierefreie öffentliche Informationsplattform gebraucht. Zum einen um mich gegebenenfalls zwischenzeitlich selbst zu vergewissern, ob ich mit meiner Vermutung richtig liegen könnte und zum anderen mit aktuellen Informationen und Daten darüber wo und wann ich wie eine Diagnose erhalten kann, wenn ich es will. Ich muss außerdem vorher überhaupt für mich abwägen können was es bedeutet eine offizielle Diagnose zu erhalten. Was sind meine Vor- und Nachteile. Planbarkeit! Sicherheit!

Und es darf einfach nicht sein, dass es in Österreich ein Privileg und Luxus ist sich diagnostizieren zu lassen, worauf ich dann aufgrund eines Diagnosenotstandes auch noch Monate bis Jahre in der Unsicherheit allein warten muss. Es darf nicht sein, dass die Hürden bis dahin so hoch sind, dass ich sie unmöglich oder nur mit sehr großem Kraftaufwand als Betroffene selbst bewältigen kann. Wir sprechen hier von einer gesundheitlichen Grundversorgung! Wir brauchen keine weiteren Reformationen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens, sondern eine Revolution! Denn wenn wir auch nur einer Person diesen Weg ersparen oder leichter machen können, dann ist es unsere Aufgabe, dass wir es wenigstens versuchen“.

*Jaey (Name geändert) ist Teilnehmerin von Eranos, einem Projekt zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen