Fenster in die Vergangenheit

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Viele Bräuche, die in vergangenen Zeiten fixer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens waren und wichtige soziale Funktionen erfüllten, sind heute kaum bekannt. Dennoch berühren sie uns immer noch als Überbleibsel einer archaischen, rätselhaften Welt. Die europäische Ethnologin Helga Maria Wolf hat mit „Verschwundene Bräuche“ ein umfassendes Lexikon der untergehenden Rituale erstellt. Im Interview erklärt sie die Notwendigkeit von Ritualen und Bräuchen in der heutigen Zeit.

Access Guide Magazin: Wie wichtig sind Bräuche und Rituale für das menschliche Zusammenleben?

Helga Maria Wolf © Helmut Lackinger

Helga Maria Wolf © Helmut Lackinger

Helga Maria Wolf: Ich persönlich sehe „Volkskultur“ zwischen den beiden Polen Lebensfreude und Lebenshilfe. Glaubt man den Beschreibungen, kann kaum etwas mehr Freude gemacht haben, als manche alten Feste. Auch bei modernen Bräuchen und Events ist der Spaßfaktor wichtig. Traditionelle Rituale konnten aber auch in schwierigen Situationen Lebenshilfe leisten – sonst würden jetzt Psychologen und Therapeuten nicht so sehr nach ihrer Wiederentdeckung rufen. Wichtige Lebensereignisse wie Geburt, Heirat oder Tod, werden von der Kirche mit Sakramenten begleitet. Man sollte aber auch im „weltlichen“ Leben vielleicht wieder mehr daran denken. Bräuche haben zudem eine soziale Dimension, denn Feste verbinden und bieten den Individuen Höhepunkte des Lebens und des Jahreslaufes.

Access Guide Magazin: Wie unterscheiden sich städtische von ländlichen Bräuchen?

Helga Maria Wolf: Die Landwirtschaft war extrem von der Natur abhängig. Die Bräuche im Bauernjahr haben daher viel mit der Jahreszeit und der jeweils nötigen Arbeit bzw. deren Abschluss zu tun. Die Landbevölkerung erhoffte sich von ihren Ritualen Schutz und Segen. Die bestehende Gemeinschaft sollte nach bewährten Regeln funktionieren, dazu gehörten auch soziale Kontrolle, Rüge- und Heischebräuche. Heiligenverehrung, Patrone und Bauernfeiertage waren wichtig. Wenn auch noch heute der überwiegende Teil der staatlichen Feiertage auf kirchliche zurückgeht, spielt doch in der Stadt der religiöse Hintergrund eine geringere Rolle. Dafür entstanden hier andere Bräuche, die speziell im adeligen oder bürgerlichen Milieu verankert waren, z.B. die Zunftbräuche der Handwerker.

Access Guide Magazin: Warum geraten manche Bräuche in Vergessenheit?

 Helga Maria Wolf: Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie kommen auch nicht aus der „Volksseele“. Sie werden erfunden, wenn man sie braucht. Bräuche wandern, entwickeln sich

dynamisch weiter, verschwinden, werden wieder belebt. Keiner hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart erhalten. Braucherfinder – Einzelpersonen oder Gruppen – kamen aus allen sozialen Schichten. Herrscher und Kirche hatten gute Gründe, selbst Feste zu begehen oder für andere festzulegen. Kreative Köpfe, wie der Dichter Matthias Claudius, führten für ihre Familien eigene Feiertage ein – als Journalist ermunterte er seine Zeitgenossen dazu. Die Gründe für die Entstehung von Traditionen sind vielfältig. Meist kommen einige zusammen, wie wirtschaftliche  Notwendigkeiten, religiöse Gebote, ungeschriebene Gesetze oder psychologische Ursachen. Bräuche werden veränderten Gegebenheiten angepasst, einzelne Elemente verschwinden, verbinden sich mit anderen, es entsteht etwas Neues. Bräuche sind flexibel und hybrid. Bräuche sind nicht „ewig“ und vieles geht verloren, wenn die Grundlage wegfällt. Und um manches, z.B. Rügebräuche, ist auch gar nicht schade.

 Access Guide Magazin: Gibt es aktuell wieder ein stärkeres Bedürfnis nach Ritualen?

 Helga Maria Wolf: Ich bezweifle, dass es – analog zur aktuellen Trachtenmode („Wiesn-Dirndl“) oder dem in Wahlwerbungen inflationär gebrauchten Wort „Heimat“ ein stärkeres Bedürfnis nach Bräuchen im herkömmlichen Sinn gibt. Eher scheint es Interesse an persönlichen Ritualen zu geben, die man aus verschiedenen Elementen selbst zusammenstellt, oder bei festlichen Anlässen mit Hilfe professioneller Ritualberater entwickelt.

Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.

Das Access Guide Magazin wird demnächst noch mehr über aktuelle Bräuche berichten, wie etwa dem Öblarner Krampusspiel (im Bild oben © Steiermark Tourismus).