„Ich bin anders.“

Autismus ist eine unsichtbare Behinderung, über die bis heute zahlreiche Vorurteile bestehen und großes Unwissen herrscht. Oft wird der Begriff als plattes Stilmittel für negatives Verhalten fehlverwendet, jedoch nicht hinterfragt oder gar verstanden. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist autistisch – ein nicht unerheblicher Teil dieser Menschen weiß davon jedoch nichts. Besonders bei Mädchen und Frauen wird die korrekte Diagnose erst spät gestellt, weil die Symptome mit Schüchternheit, Verschlossenheit und ähnlichen Charakterzügen verwechselt werden. So auch bei Marlies Hübner. Die deutsche Autorin erfuhr erst als junge Erwachsene, dass sie dem autistischen Spektrum angehört. In ihrem Buch „Verstörungstheorien“ zeichnet sie ein authentisches Bild ihres Autismus. Im Interview erklärt die Autorin, was es mit ihrem „Anders Sein“ auf sich hat.

Access Guide Magazin: Ihre Autismus-Diagnose kam relativ spät, da waren Sie schon erwachsen. Finden Sie, Ihre Eltern hätten früher etwas tun können? Wann haben Sie selbst gemerkt, dass Sie ein bisschen anders als andere sind und wie haben sich Ihre Eltern das erklärt?

Marlies Hübner: Ich habe schon sehr früh gemerkt, dass ich anders bin. Ich war das verträumte, schüchterne, ängstliche Kind mit den merkwürdigen Interessen. Eine Erklärung dazu konnte niemand liefern. Autismus war nicht bekannt, wer anders war, musste sich zusammenreißen und anpassen. Das klappte natürlich nur bedingt und in Teilen. Im Nachhinein glaube ich, dass nur der außergewöhnlich strukturierte Ablauf in meiner Großfamilie Schlimmeres verhinderte.

Access Guide Magazin: Sie merken sich Gesichter anhand von Orten und Tätigkeiten. Wie lange und gut müssen Sie jemanden kennen, um sein Gesicht auch in anderen Zusammenhängen erkennen zu können und wie helfen Sie sich, wenig Bekannte wieder zu erkennen?

Marlies Hübner: Das Gesicht kann ich mir gar nicht merken. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir weder das meiner Mutter, noch das enger Freunde, ja nicht einmal das von Personen, die gerade vor mir stehen, ins Gedächtnis rufen. Prosopagnosie lässt mich Gesichter überhaupt nicht erfassen. Ich erkenne jemanden tatsächlich nur an Frisur, Kleidung und möglichen Accessoires wie Schmuck, Bart und Brillen wieder.

Access Guide Magazin: Wie sieht Ihr Alltag mit Autismus aus?

Marlies Hübner: Ich habe mir eine Alltagsumgebung geschaffen, in der mir Routinen und liebgewordene Rituale Sicherheit geben. Das betrifft jeden Bereich, von der Ernährung bis hin zum beruflichen Umfeld, und hilft mir, einen Overload zu vermeiden.

Access Guide Magazin: Was ist Overload, wie entsteht er, wie ist er zu vermeiden, wie lange dauert die Erholungsphase?

Marlies Hübner: Ein Overload ist eine Überlastung des Gehirns durch zu viele Sinneseindrücke. Man muss sich das vorstellen, als ob sich eine Festplatte aufhängt, weil der Arbeitsspeicher überlastet ist. Man kann ihn nicht immer vermeiden, es hilft aber, auf seine Grenzen zu achten und sich Pausen und Ruhe zu gönnen, wenn es nötig ist. Die Länge der Erholungsphasen variiert stark und ist vom allgemeinen Zustand und der Heftigkeit der Überlastung abhängig. Manchmal dauert es einen Tag, manchmal sind es Wochen.

Access Guide Magazin: Das Arbeitsamt schlug Ihnen einen IT-Beruf oder eine Behindertenwerkstatt vor? Was muss sich in unserer Gesellschaft ändern, damit ein anderes Bild von Autisten entsteht?

Marlies Hübner: Bei Autisten beobachten wir das gleiche Versagen wie bei behinderten Menschen generell oder mit verschiedenen Minderheiten: Es geht selten um nachhaltige Inklusion, sondern meistens darum, ein Problem möglichst schnell aus dem Blickfeld zu bekommen. Unsere Gesellschaft betrachtet Menschen mit besonderen Bedürfnissen nicht als Herausforderung oder gar Chance, sondern als Last. So wie auch beim Arbeitsamt, das nur zwei Extreme als Möglichkeit sah. Dabei unterschätzt man gerade bei Autisten gern, wie leistungsfähig sie im richtigen Umfeld sein können. Mit dieser Sichtweise wird man weder dem Autismus noch generell besonderen Bedürfnissen gerecht.

Access Guide Magazin: Was wären die wichtigsten Tipps, die Sie neurotypischen Menschen im Umgang mit Autisten geben würden?

Marlies Hübner: Respekt vor und die Akzeptanz menschlicher Vielfalt ist wichtig. Kein Mensch ähnelt dem anderen, und so ist es auch bei Autisten. Viele von uns mögen es, gefragt zu werden, weil wir auch mit Fragen unsere Unsicherheit überwinden. Sprich: Eine direkte, respektvolle Kommunikation ist das A und O. Daraus ergibt sich fast alles andere.

Access Guide Magazin: War es einfach für Sie, ein Buch zu schreiben?

Marlies Hübner: Ich denke, es stellte für mich keine größere Herausforderung als für andere Autoren dar. Auch diesen Prozess habe ich in meine Routinen integriert und für ihn eigene Routinen geschaffen.

Access Guide Magazin: War es auch ein bisschen Selbst-Therapie?

Marlies Hübner: Es gibt eine klare Trennung zwischen der Figur der Elisabeth und mir. Allerdings sind viele Elemente aus der Diagnostik und der Auseinandersetzung mit der Diagnose in das Buch geflossen. Insofern hatte es ohne Zweifel eine therapeutische Wirkung.

Access Guide Magazin: Wie viel von Marlies steckt in Elisabeth? Wie ist das Verhältnis von Fiktion zu Realität im Buch?

Marlies Hübner: Mir war es wichtig, ein möglichst authentisches Bild meines Autismus zu zeichnen und mit Elisabeth eine Figur zu kreieren, die den Leser auf diese Reise mitnimmt. Natürlich sind wie in jedem Memoir eigene Lebensereignisse sowie – in diesem speziellen Fall – Erfahrungen mit dem Autismus verarbeitet und zu einer hoffentlich spannenden Geschichte verdichtet worden.

Access Guide Magazin: Möchten Sie anderen Autisten mit Ihrem Buch helfen?

Marlies Hübner: Man kann von einem Buch nicht erwarten, dass es umfassende Hilfestellung leistet. Dafür ist das Spektrum des Autismus zu divers. Es würde mich aber sehr freuen, wenn andere Autisten sich an manchen Stellen drin wiederfinden oder Angehörigen von Autisten Unterstützung im Umgang mit Autisten gegeben wird.

Access Guide Magazin: Ist das Buch nur was für Autisten oder ist es auch Menschen zu empfehlen, die in Bezug auf das Thema neugierig sind?

Marlies Hübner: Ich habe das Buch mit einem Publikum im Hinterkopf geschrieben, das sich ausdrücklich nicht nur auf Autisten beschränkt. Mir ist bewusst, dass Autismus ein sehr spezielles Thema ist. Gleichzeitig ist das mediale Interesse ungebrochen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich eine breite Leserschaft erreiche und Vorurteile abbauen kann.

Access Guide Magazin: War dieses Buch ein einmaliges Projekt? Können Sie sich vorstellen, weitere Bücher zu schreiben?

Marlies Hübner: Ich hoffe, dass ich noch viele Bücher schreiben werde und arbeite bereits an neuen Projekten.

Access Guide Magazin: Danke für das Gespräch.

Verstörungstheorien, Marlies Hübner, Schwarzkopf Verlag