Renaissance des Spaziergangs

Mobilitätsagentur Wien Stephan Doleschal

Zu-Fuß-Gehen gehört zu den selbstverständlichsten Dingen unseres Alltags. Doch unter welchen Bedingungen gehen Menschen gerne zu Fuß? Worin bestehen die größten Schwierigkeiten und wie viel Platz gibt es eigentlich dafür? Antworten darauf gibt Petra Jens, Beauftragte für Fußgänger*innen der Stadt Wien.

 Access Guide Magazin: Sie sind seit 2013 die Fußgänger*innenbeauftragte der Stadt Wien. Wie schaut Ihr Job aus?

Petra Jens: Die Aufgabe der Mobilitätsagentur und mir ist es, die Kultur des Zu-Fuß-Gehens zu etablieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig aktive Mobilität für die Stadt und den Klimaschutz ist. Es ist eine Kulturarbeit. Wir machen auch Werbung für das Zu-Fuß-Gehen. Als wir vor acht Jahren starteten, war das etwas ganz Neues. Die Arbeit ist vielfältig und reicht von verschiedenen Veranstaltungen bis zu Forschungsprojekten. Wir sind aber keine Verkehrsbehörde. Unser Job ist die Bewusstseinsarbeit.

Access Guide Magazin: Wie hoch ist aktuell der Anteil der Fußgänger*innen in Wien?

Petra Jens: Wien liegt international im Spitzenfeld, was den Fußverkehr angeht. 2020 war ein ganz besonderes Jahr, da ist der Anteil der zu Fuß zurückgelegten Wege am Modal Split mit 37% durch die Decke gegangen. Davor betrug der Fussgänger*innenanteil zwischen 26 und 28 Prozent. Er liegt ungefähr gleich mit der PKW-Nutzung (27%) auf, meistens ein wenig davor. Das Pandemiejahr war in vielerlei Hinsicht ein fundamentales Ereignis. Viele Gewissheiten sind weggebrochen. Die Menschen mussten zu Hause bleiben, Kinder gingen nicht in die Schule. Außerdem sind viele Freizeitwege weggefallen. Durch all diese Einschränkungen hat das Spazierengehen eine Renaissance erlebt und wurde zur Freizeitbeschäftigung Nummer Eins.

Access Guide Magazin: Durch welche aktuellen Projekte soll den Wiener*innen noch mehr Lust auf´s Gehen gemacht werden?

Petra Jens: Da ist zum Beispiel die Wien zu Fuß-App, ein Gratis-Angebot für alle Menschen, die in Wien zu Fuß unterwegs sind. Die App zählt täglich die Schritte und diese Schritte kann man dann für diverse Goodies eintauschen, wie ein Kaffee und ein Kipferl oder ein Theaterticket und vieles mehr. Wichtig ist, dass die App nicht zur Selbstoptimierung dient, wie es bei Sport-Apps üblich ist. Bei der Wien zu Fuß-App steht der Genuss im Vordergrund. Man kann sich auch mit anderen User*innen der App vergleichen – der Wettbewerb ist dabei aber im Hintergrund.

Ein weiteres unserer Angebote sind die Grätzel-Ralleys. Diese Rätselralleys gibt es als Hefte zum Download auf dieser Website oder ab Juli ausgedruckt in der wienXtra Kinderinfo. Das Angebot richtet sich an Familien mit Kindern. Wir haben für jeden Bezirk eine kindgerechte Tour entwickelt, bei der jeweils ein Park das Ziel ist. Die Ralleys entstanden im Zuge eines Bildungsprojekts der Stadt Wien für die Wiener Volksschulen. Zentrale Aspekte dabei sind die Auswirkungen von Bewegung auf Gesundheit und das Klima.

Petra Jens © Regina Hügli

Petra Jens, Beauftragte für Fußgänger*innen der Stadt Wien © Regina Hügli

Access Guide Magazin: Wie wirkt sich Gehen auf die Psyche aus? Kann man beim Gehen besser denken?

Petra Jens: Ich bin zwar keine Medizinerin, aber es gibt zahlreiche Studien dazu, dass Bewegung die Gehirnaktivität anregt und man produktiver ist, wenn man sich bewegt. Es gibt zahlreiche Philosophen, die am besten beim Gehen denken konnten. Rausgehen ist auch ein hervorragender Stressabbau. Und der Vorteil ist, es ist inklusiv, denn jeder kann gehen – unabhängig von Outfit und Fähigkeiten. Auch wer mit dem Rollstuhl unterwegs ist, bewegt seine Muskelpartien. Auf unserer Homepage finden sich zahlreiche, auch barrierefreie Spazierrouten, die auch für Rollstuhlfahrer*innen geeignet sind. Es werden laufend neue Routen hinzugefügt.

Access Guide Magazin: Wie Fußgänger*innenfreundlich ist Wien mittlerweile?

Petra Jens: Wie erwähnt ist Wien im internationalen Vergleich recht Fußgängerfreundlich. Die Gehsteige sind breit, der Anteil von Grün und Erholungsräumen ist gut über die Stadt verteilt. Je kompakter die Stadt und je höher die Nutzungsdichte bei Freizeit und Arbeit ist, umso besser. Das beschreibt der Begriff „Die Stadt der kurzen Wege“: Dabei sollen alle wichtigen Dinge im Umkreis von 15 Minuten gut erreichbar sein. Das ist in Wien dank städtebaulicher Entscheidungen, die schon länger zurückliegen, durchaus gegeben. Ein Beispiel dafür ist die Seestadt Aspern. Sie wurde ganz bewusst kompakt und hoch gebaut, damit die Wege kurz sind – dazwischen ist auch nicht alles voll mit Autos und der Verkehr wird auf wenigen Achsen geleitet. So ist die Seestadt weitgehend autofrei.

Access Guide Magazin: Wo gibt es noch Handlungsbedarf, was kann für Fußgänger*innen noch erreicht werden?

Petra Jens: Ein Thema, das uns sehr stark beschäftigt ist die starke Hitzeentwicklung durch den Klimawandel. In Wien wird es in einigen Jahren so heiß, wie in der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje sein. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Es braucht noch mehr Begrünung und Wege im Schatten. Wahrscheinlich wird sich das Leben auch stärker in die Nachtstunden verschieben, was wiederum soziale Auswirkungen haben wird. Da kommt einiges auf uns zu. Wo man noch besser werden kann ist die Durchwegbarkeit in Grätzeln: Es müssen mehr Durchgänge geschaffen werden und bei stark befahrenen Straßen sollten auch die Querungen verbessert werden. Darüber hinaus müssen möglichst viele Verkehrsberuhigte Räume und hochwertige Freiräume geschaffen werden.

Access Guide Magazin: Gibt es unterschiedliche Bedürfnisse von männlichen und weiblichen Fußgängern?

Petra Jens: Ja auf jeden Fall, wir wissen, dass Frauen mehr zu Fuß gehen als Männer. Auch Kinder und alte Menschen gehen mehr zu Fuß als Menschen mittleren Alters. Jene Gruppen, die viel zu Fuß gehen, hätten gerne mehr Sitzgelegenheiten, öffentliche Toiletten oder Schatten in regelmäßigen Abständen und natürlich ein attraktives Ambiente mit Parks, Pflanzen und abwechslungsreicher Architektur.

Access Guide Magazin: Haben Sie persönliche Lieblingsrouten in der Stadt?

Petra Jens: Ich gehe am liebsten am Wasser spazieren – an der Alten Donau zum Beispiel. Für mich persönlich ist sehr wichtig, mehrere Stunden pro Woche in die Natur zu gehen. Dabei kann ich sehr gut Erlebnisse und Probleme verarbeiten. Mindestens einmal pro Woche geh ich in die Berge. Ich habe kein Auto und fahre überall öffentlich hin oder mit dem Fahrrad. Es gibt die Initiative „Von der Bahn zum Berg“. Damit erreicht man die Wiener Hausberge sehr gut. Wie wichtig es ist, dass Erholungsgebiete öffentlich erschlossen sind, war in der Pandemie zu sehen. Da waren die Parkplätze z.B. bei der Hohen Wand komplett überfüllt und es gab Aufrufe über´s Radio, nicht mit dem PKW hinzufahren. Es hat sich aber auch gezeigt, wie groß das Bedürfnis nach Erholung in der Natur ist – und es gibt ganz viele Möglichkeiten, die günstig und einfach sind.

Access Guide Magzin: Welche Vision verfolgen Sie?

Petra Jens: Mein Ziel ist, dass sich das Bild von Straßen in der Stadt verändert, dass es selbstverständlich wird, dass Straßen auch als „öffentliches Wohnzimmer“, als Raum zum Aufhalten, Spielen und Plaudern genutzt werden. Ich wünsche mir, dass sich die Straßenräume so entwickeln, dass man sich gerne dort aufhält und dass die Dominanz der Autos fällt. Das war ja nicht immer so. In der Monarchie war es bei Strafe verboten, ein Fahrzeug öffentlich abzustellen. Der wertvolle öffentliche Raum gehört uns allen.

Access Guide Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.

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