Verschlungene Wege

Foto von Haoshuang Lou von Pexels

„Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos. Die Seele ist ein weites Land“, sagt der Hotelier Aigner in Arthur Schnitzlers „Das weite Land“. Die Tragikomödie wurde vor mehr als hundert Jahren in Wien uraufgeführt, hat aber nichts an ihrer Aktualität verloren. Nicht zufällig heißt das aktuelle Buch von Dagmar Weidinger „Unterwegs im weiten Land“. Die Wissenschaftsjournalistin hat mit 19 verschiedenen Interviewpartner*innen „Gespräche über die Psyche“ geführt. Was dabei herauskam ist ein Dialog zwischen Psychotherapie und Religion, Kultur, Politik und Wirtschaft.

In den Interviews geben Menschen aus unterschiedlichen Sozialberufen spannende Einsichten in ihre Arbeit und Philophie. Die Schweizer Tiefenpsychologin Verena Kast erklärt etwa was die rasante Ökonomisierung und Materialisierung der Gesellschaft mit uns macht oder warum alles auf der Welt besser wäre, wenn wir bessere Beziehungen hätten. Der deutsche Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann wiederum singt ein Credo auf die Besitzlosigkeit und erklärt, warum er von manchen seiner Klient*innen kein Geld nimmt. Ebenfalls im Spannungsfeld Glaube und Wissenschaft angesiedelt ist das Streitgespräch zwischen dem Wiener Psychoanalytiker und Gestalttherapeuten Richard Picker und dem Pfarrvikar und Logotherapeuten Gerhard Bauer.

Über den wichtigen Faktor der inneren Ruhe diskutieren der Gestalttherapeut Franz Ritter und der Journalist Martin Tauss. Beide bewegen sich an den Schnittstellen von Psychotherapie und Buddhismus. Sie wissen um die Gefahren gegenseitiger Verkürzungen, aber auch um die Chancen eines Dialogs und die Möglichkeiten einer modernen Bewusstseinskultur. Michaela Nowak und Klaudia Gehmacher vom Verein Windhorse erzählen von der Arbeit mit Menschen mit Psychose-Erfahrungen. Sie erklären die Bedeutung von „Inseln der Klarheit“ und wie ihre Klient*innen eine hilfreiche innere Landkarte entwickeln können.

Die Schweizer Psychologin Silvia Zanotta, Expertin im Bereich der Schamgefühle, arbeitet mit Trauma-Überlebenden, die sich am liebsten „auflösen“ würden. Die Hypnose-Psychotherapeutin berichtet über den schwierigen Umgang mit „toxischer Scham“, die Wichtigkeit von Zugehörigkeitsgefühlen – und über ihre Vergangenheit als Punk-Sängerin. Die Philosophin Bettina Zehetner ist Lehrbeauftragte der Universität Wien und Autorin zahlreicher Bücher zum Thema feministische Psychotherapie und Beratungspraxis. Sie steht dem Wiener Verein Frauen* beraten Frauen* vor, der sich seit 1980 für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. Sie berichtet über soziale Machtverhältnisse und die Chancen eines richtig verstandenen Feminismus.

Die systemische Therapeutin und Philosophin Angelika Grubner stellt sich die Frage ob Psychotherapie aktuelle Machtverhältnisse befeuert. Sie fordert eine selbstkritische Auseinandersetzung ihrer Berufsgruppe mit deren gesellschaftlicher Position und die Neuorganisation der psychotherapeutischen Ausbildung. Martha Pany war selbst lange Jahre psychisch erkrankt und arbeitet heute als Ergotherapeutin in Deutschland. Sie berichtet über ihre Erfahrungen in der Psychiatrie, das Recovery-Konzept und ihren erfolgreichen Podcast „Hoffnung hilft heilen“. Die aus Wien stammende Psychoanalytikerin und Verhaltenstherapeutin Eva Jaeggi nähert sich der Liebe in all ihren Facetten und beantwortet Fragen wie „Was ist dran an den lebenslang haltenden Ehen?“ oder „Wie viel Glück sollte man sich von einer Partnerschaft überhaupt erwarten?“

Weidinger Unterwegs Coverfoto

Das Buch ist im Picus Verlag erschienen.

Harville Hendrix und Helen LaKelly Hunt, Begründer der Imago-Therapie, erzählen darüber, wie ihnen ihre eigene Beziehung den Weg zur Therapieform wies – und erklären, wie Paare miteinander kommunizieren sollten. Der Individualpsychologe Wolfgang Krüger berichtet, wie er sich selbst durch Familienforschung besser kennengelernt hat – und warum er seine Klienten erst versteht, wenn er ihre Großeltern kennt. Der deutsche Körperpsychotherapeut Bernhard Schlage spricht darüber, wie belastend sich Kriegs- und Fluchtschicksale früherer Generationen auf das Seelenleben heutiger Nachfahren auswirken können – und wie Ahnenforschung zu einer stabileren Gesundheit führt. Die Verbindung von Psychologie und Kampfkunst reflektiert der Transaktionsanalytische Psychotherapeut Rainer Dirnberger. Für ihn ist die „sanfte Kampfkunst“ Aikido eine perfekte Ergänzung zur Psychotherapie. Er selbst ist langjähriger Aikidoka.

Die Psychoanalytikerin Elisabeth Dokulil ist Gründerin der ersten Wiener Messie-Selbsthilfegruppe. Sie erzählt über die fließenden Ordnungen der Messies – und was sie von Archivaren unterscheidet. Der deutsche Pädagoge Heinz-Peter Röhr begleitet seit über fünfunddreißig Jahren Menschen psychotherapeutisch in der Fachklinik Bad Fredeburg für Suchtmittelabhängige. Er erzählt, warum Hass abhängig machen kann – und was das möglicherweise mit frühen Bindungstraumata zu tun hat.

Alfred Pritz gründete weltweit die erste Universität für Psychotherapiewissenschaften. Er erklärt warum er sich mit der Zerstörung der Umwelt auseinandersetzt. Die Jungianische Psychotherapeutin Ingrid Riedel ist als Mitbegründerin der Mal- und Gestalttherapie bekannt. Auch ihr brennen ökologische Fragen unter den Nägeln. Sie erzählt über apokalyptische Träume angesichts der Klimakrise, ihre eigene Liebe zu allem  „Gewachsenen“ und das Wunder, das die Erde heute braucht. Coach und Imaginationsforscher Walter Ötsch berichtet über die wegweisende Bedeutung positiver Zukunftsbilder. Alle Gespräche zeigen, dass es mehr als einen Ansatz gibt, die verschlungenen Wege der Psyche aufzuspüren und Leid zu lindern.

Dagmar Weidinger © Markus Ladstaetter lama@lama.at

Dagmar Weidinger © Markus Ladstaetter

Dagmar Weidinger arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin, Universitätslektorin und Kuratorin für „Outsider Art“ in Wien. Sie hat in Kunstgeschichte promoviert und das psychotherapeutische Propädeutikum absolviert. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt an der Schnittstelle von Kunst und Psychologie. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie mit dem Medienpreis des Gesundheitspreises der Stadt Wien ausgezeichnet. Ihr aktuelles Buch „Unterwegs im weiten Land – Gespräche über die Psyche“ erscheint im März 2022 im Picus Verlag. Die Buchpräsentation findet am 23. März 2022 um 18:30 Uhr in der Sigmund Freud Universität statt.