Die Kunst der Wiederholung

Bild von Free Photos auf Pixabay

Rituale geben uns Halt und Struktur in hektischen Zeiten. Sie helfen dabei, den Übergang von einer Lebensphase zu einer neuen besser zu bewältigen oder auch den persönlichen Alltag im Kleinen zu strukturieren. Im Dezember hat sich das Access Guide Magazin ausführlich diesem Thema gewidmet und es aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Anton* erzählt: „Als meine 97-jährige Nachbarin noch jünger war, hatte sie den Kurier abonniert und sich vor die Haustür liefern lassen. Es war unser Ritual, dass ich jeden Morgen nachschaute, ob sie als Frühaufsteherin die Zeitung hineingenommen hatte. Lag sie um sieben Uhr noch auf der Fußmatte, habe ich bei ihr geläutet bzw. ihren Sohn angerufen. Zweimal hatte diese Nachschau geholfen: einmal war sie im Badezimmer gestürzt, einmal im Vorzimmer gestolpert und konnte nicht mehr aufstehen. Inzwischen ist der Kurier abbestellt und die Nachbarin wird von zwei 24-Stunden-Helferinnen in Dauerpräsenz betreut“.

Vor einiger Zeit war Anton ein halbes Jahr in Pflegekarenz und betreute seinen Vater, der mittlerweile im Heim ist. Obwohl Anton sich überhaupt nicht für Sport interessiert, studierte er damals immer morgens um fünf die Sportberichterstattung um seinem Vater dann beim Windelwechseln Spannendes und Neues aus der Welt des Fußballs berichten zu können. So konnte Anton seinem Vater den Tag verschönern. Ähnliches motiviert Anton, wenn es darum geht, Geburtstage zu feiern. Obwohl ihm Parties eigentlich ein Greuel sind, denkt Anton immer an Jubliäen im Familienverbund und engeren Freundeskreis: „Da besorge ich passende Glückwunschkarten oder zeichne sie selbst, greife zur Füllfeder und zur Sondermarke und gratuliere schriftlich. Durch diese Wertschätzung zeige ich, dass mir meine Familie und Freunde wichtig sind. Im Wissen, ihnen eine Freude und Aufmerksamkeit zu bereiten, fühle ich mich selbst auch wohl“.

Auch im Berufsleben sind ihm Strukturen wichtig. „Ich putze am Vorabend die Schuhe, bereite farblich passendes Gewand vor und packe die Aktentasche. Dann bin ich gut auf den Arbeitstag vorbereitet, finde Halt durch das Ritual und zeige den Damen und Herren Kollegen durch eine adrette Erscheinung auch Respekt“. So hält es Anton auch, wenn er einen Termin bei der klinischen Psychotherapeutin wahrnimmt. „Davor lasse ich die letzte Sitzung Revue passieren: welche Sichtweisen von außen haben mir geholfen, welche gefallen mir nicht (und warum nicht), wo muss ich noch nachhaken? Wo kann ich flexibel sein, was ist nicht verhandelbar? Was ist mir so wichtig, dass wir es thematisieren müssen und wo würde ich der Expertin nur wertvolle Zeit stehlen“, fragt sich Anton vor einer Therapiesitzung. Auch in der Freizeit hat Anton Rituale, auf die er sich freut. So geht er einmal pro Woche in die Leihbücherei: „Die Bücher studiere ich nach zwei Gesichtspunkten: habe ich etwas Neues gelernt, das ich bisher noch nicht wusste, gibt es andere Standpunkte, an die ich bisher noch nicht gedacht habe? Und: finde ich originelle Formulierungen oder brillante Ideen?“

Kaffee und Zigaretten

Image by pavlelederer from Pixabay

Image by pavlelederer from Pixabay

Bei vielen Redaktionsmitgliedern ähneln sich die täglichen Rituale. Gregor* trinkt jeden Morgen ein Glas Wasser und raucht eine Zigarette. Ihn beruhigt es, wenn er am Vorabend schon weiß, was der nächste Tag bringen wird, damit er sich besser darauf einstellen kann. Bei familiären Traditionen denkt er am ehesten an gemeinsame Essen und verbindet mit Ritualen meist schöne Erinnerungen. Auch Tom raucht gerne gleich in der Früh. Dabei checkt er seine Mails und liest die aktuellen Nachrichten. Bevor er die Wohnung verlässt, betet er und spricht kurz mit Gott.

Clara* ist ebenfalls gläubig und beginnt den Tag mit einer Morgenandacht. „Ich lese in der Bibel oder hole mir aus meinem Andachtskalender Anregungen. Ich habe beschlossen, die Bibel von vorne bis zum Schluss durchzulesen, altes und neues Testament. Momentan geht es um die Könige von Jerusalem, um Macht und Ungehorsam“. Neben dieser spirituellen Einkehr kümmert sich Clara auch um ihren Körper: „Ich mache abwechselnd Stretching und Krafttraining und viel Gymnastik, weil ich ziemlich verspannt bin. Außerdem gehe ich regelmäßig spazieren – ich bin gerne in der Natur.“ Innerhalb der Familie schätzt Clara besonders Höflichkeitsrituale: „Wir nehmen aufeinander Rücksicht, halten Türe auf oder helfen beim Tragen – dafür bin ich dankbar, es macht eine schöne Atmosphäre“. Zu Weihnachten trifft sich meist die ganze Familie „Leider ist mein Vater verstorben. Bei meiner Mutter gibt es am Heiligen Abend immer Fisch zu essen, auch heuer“.

Kochen und Konflikte

Clemens* kommt aus einer kinderreichen, chaotischen Familie:  „Bei uns wurde viel gestritten, nur einmal im Jahr zu Weihnachten gab es eine Art Waffenstillstand unter den Geschwistern. Wir haben gemeinsam den Baum geschmückt und die Geschenke verpackt – meist in letzter Minute. Das Besondere an unseren Weihnachtsfeiern war aber, dass wir nie wussten, was es zum Abendessen geben wird. Meine Mutter hat daraus immer ein Geheimnis gemacht. Manchmal hat sie sich schon im August überlegt, was es am Heiligen Abend geben wird. Mir hat sie es manchmal verraten, aber ich durfte natürlich nichts sagen. Und auch, wenn das Essen ausgezeichnet war und viele im Nachhinein davon geschwärmt haben, hat sie niemals wieder dasselbe Essen gekocht.“

Das schönste Blatt am Baum

Für Leo*, der aktuell Teilnehmer im Eranos-Projekt ist, zählt der dadurch geregelte Tag zu den wichtigsten Sturkturen im Moment. „Seit Beginn schätze ich die ausgewogene Einteilung in verschiedene Phasen, welche dem langsamen und angenehmen Einstieg in die Arbeitswelt unterstützen sollen. Für mich persönlich ist das sehr hilfreich, ebenso wie die Betreuung vor Ort, die sich jedem der individuellen Probleme annimmt. Und dies nicht nur mit Mühe, sondern ebenso Verständnis für die jeweilige Situation eines Menschen, wenn man selbst die Fähigkeit oder Geduld aufbringen kann, um ihnen entgegenzukommen und beiden Parteien mit der gemeinsamen Arbeit zu einem erfolgreichen Ergebnis zu verhelfen weiß.

Leo hat in der kurzen Zeit beim Phönix Project sehr viel über sich selbst und seine Ziele im Leben in Erfahrung bringen können. „Es ist mir auch gelungen über meinen eigenen Schatten zu springen und einem eigenständigen und glücklicheren Leben näher zu kommen, was ich ohne die fortwährende Unterstützung von Eranos kaum bewerkstelligt hätte. Nicht nur dass sich eine eigene Wohnung in greifbarer Nähe befindet, auch ein Berufsleben mit bisher ausschließlich positiven Erfahrungen steht vor der Tür. Während meiner Zeit bei Eranos konnte ich auch laufend neue Charakterzüge bzw. Zustandsverbesserungen bei mir selbst feststellen. Sowohl im körperlichen, als auch vor allem im psychischen Bereich. Weswegen es mir sehr schwer fällt mir eine Handvoll Begebenheiten aufzuzählen, welche sich bei mir eingeprägt haben. Es ist als müsste ich mein liebstes Blatt auf einem erblühenden Baum auswählen. Es gab kaum Tage an denen ich nicht von etwas profitieren konnte, dass einen prägenden Unterschied in meiner Entwicklung bewirkt habe, obgleich es nur die unentwegten positiven Zusprüche von verschiedensten Menschen innerhalb der Organisation seien. Aber mein größter Dank gilt meinem derzeitigen Einzelcoach. Auch wenn ich mich selbst nicht als den fähigsten Klienten ansehe, den man abbekommen könnte, macht sie es unmissverständlich klar, dass ich durchaus sehr schnelle und gute Fortschritte mache und unterstützt mich dabei mit vollem Einsatz, wofür ich nicht dankbarer sein könnte. Durch andauerndes positives Feedback und ihre Unterstützung habe ich jene Fortschritte erst ermöglichen können, was bis zu diesem Zeitpunkt meine bisher beste Erfahrung bleiben wird“.

* Namen wurden aus Datenschutzgründen geändert